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Sisyphus am Everest

■ Reinhold Messner: Tragödie und Tragikomödie eines modernen Helden

Ludger Lütkehaus

Jetzt will er sogar zur Abwechslung die Antarktis durchqueren. Davor 14 Achttausender, 29 Expeditionen in 16 Jahren, erste Besteigung des Everest ohne Sauerstoffmaske, erster vollständiger Alleingang am Nanga Parbat und - wieder ohne Maske - am Everest, erste Besteigung von drei Achttausendern in einer Saison, erste zusammenhängende Überschreitung von zwei Achttausendern - keine Frage: der Mann ist der fleischgewordene Superlativ, ein „Bergsteiger ohnegleichen“, „der berühmteste Alpinist der Welt“.

Dazu: Fast 30 Bücher, Hundertausende verkaufter Exemplare, Vortragsreisen in aller Welt vor spektakulären Zuhörerzahlen, finanzstarke Sponsoren en masse - der Mann hat einen ebenso superlativischen Erfolg; der Sohn einer kinderreichen Lehrerfamilie aus dem Südtiroler Villnösstal steigt zum Schloßherrn auf Juval im Vintschgau auf, wo „Reinhold I.“, so das französische Alpinmagazin 'Vertical‘, jetzt als „König der Achttausender“ residiert.

Schließlich: Er hat auch viele Feinde, mehr vermutlich als Freundinnen und Freunde; er gehe über Leichen, sei abgrundtief kommerziell korrumpiert, hemmungslos egoistisch und narzißtisch, beziehungsunfähig allemal, clever ja, aber letzten Endes nicht mehr als ein talentierter alpinistischer Yuppie.

Doch weitaus interessanter als die Person ist der Typus, den Messner in extremer Form repräsentiert, weitaus sympathischer die Entwicklungsgeschichte, die er in atemberaubendem Tempo durchlaufen hat. Es ist die eines modernen Helden, in dem sich Widerstandskraft und Anpassungsvermögen so miteinander verbanden, daß er schließlich genau dort wieder ankam, von wo er einst aufgebrochen war. Und die Tragödie des mythischen Heros, dessen Züge er zunächst zeigt, entpuppt sich am Ende als exemplarische Tragikomödie aus dem gesellschaftlichen Leben der Jetztzeit. Alpiner Rousseauismus:

Unter dem Pflaster der Berg

Als Messner um 1970 bei einem breiteren Publikum bekannt wurde, da lag das nicht nur an seinen zahlreichen äußerst schwierigen Erst- und Alleinbegehungen, sondern ebensosehr an der Botschaft, die er ebenso streitbar wie umstritten in Theorie und Praxis vertrat: eine Art alpiner Rousseauismus. Zurück in die Berge - so der Titel des ersten, radikalsten und heute auch noch besten Buches des zornigen jungen Mannes -, das hieß für ihn: heraus aus den Städten, der verwalteten Welt, der verfetteten, verfaulten, versicherten Wohlstandsgesellschaft - diesem gutausgestatteten Knast - mit ihrem risikolosen Fortschritt im Sitzen, ihren Sachzwängen, ihrer Vergötzung des Konsums, des Nutzens, des Profits. „Unter dem Pflaster der Berg“, verkündete Messner - so wie gleichzeitig die Studentenbewegung „unter dem Pflaster der Strand“.

Dabei mußte man sich nicht einmal an Messners unverhohlenem Narzißmus, ja Autismus stören. Denn so kam wenigstens nichts von jenem politischen, weltanschaulichen oder ideologischen Bombast auf, der nur allzuoft die bergsteigerische Ideo -Lyrik beherrscht hat. Die „Nation“ hatte dem Südtiroler nie etwas gesagt. Das Wort „Gott“ kam bei ihm so gut wie nicht vor, höchstens im Laufe der Zeit wieder die „Götter“. Und von dem Gipfelkrieg und Gipfelsieg, an dem sich ein entschieden männlicher Alpinheroismus so oft aufgerichtet hatte, wollte Messner noch viel weniger wissen. Um so mehr aber von jener Selbstbegegnung, die möglich wurde, wenn der bergsteigende „Homo montanus“ nicht mehr als „Homo faber“ die große Natur auf die Folter legte, damit sie ihre Gipfelerscheinungen um jeden Preis den Gipfelleistungen ihrer Eroberer hingab: Messner hat leidenschaftlicher als jeder andere seiner Generation das Bergsteigen als Selbsterfahrung proklamiert - oft genug mit einem modischen Vokabular als „Egotrip“ oder gar als „naturale Droge“, manchmal aber auch sehr plastisch und plausibel: Hoch müsse man hinaufsteigen, um tief in sich hineinsehen zu können. Der Mythos von Sisyphus

Hoch oben und tief innen freilich begegnete diese Selbsterfahrung immer wieder einem mythischen Heros, den man dort eigentlich nicht vermutet hätte: Es ist Sisyphus, „der Held des Absurden“ (Albert Camus), verdammt zu ewiger Strafe, aber erhellt von tragischem Selbst- und Situationsbewußtsein: „Ich bin (...) eine Art Sisyphus, der niemals wirklich zum Gipfel kommt. Ich bin Sisyphus, und der Stein, den ich auf den Berg rolle, ist meine eigene Psyche.“ Ein erstaunliches Bild, denn schließlich verwendet es derjenige, der physisch häufiger als jeder andere Sterbliche auf den höchsten Gipfeln dieser Erde war. Warum also Sisyphus?

„Der wahre Sisyphus“, erkennt Messner unter dem „gläsernen Horizont“ des Everest, „verzweifelt nicht an der wiederholten Anstrengung, sondern gleichzeitig am Nie-oben -sein-Können sowie am Nie-unten-sein-Können.“ Und in der Tat leidet dieser neue Sisyphus mehr als an allem anderen an eben diesem Symptom. Unten muß er immer wieder neue „Ideen“, „Träume“ oder „Utopien“ entwickeln, wie er einigermaßen anspruchsvoll formuliert, die er erfolgreich steigend realisiert. Oben aber, selbst im Augenblick seiner größten Triumphe, überkommt ihn statt der Euphporie meist so sehr die Depression, daß er bereits während des Abstiegs wieder neue Pläne wälzen, seinem tragischen mythischen Helden gemäß bergan wälzen muß. „Aufstieg für den Abstieg“ lautet der selbstgesetzte Imperativ seiner ziellosen zyklischen Bewegung. Und beim Abstieg, auf dem Rückweg, in der „Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil“, muß man ihn, Camus' Mythos von Sisyphos zufolge, aufsuchen. Denn in dieser Stunde „kennt er das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: Über sie denkt er während des Abstiegs nach“.

Was er aber dabei erkennt, ist dies: Die größte Tragödie ist es, „wenn man sein Ziel erreicht“. Die Träume erfüllen sich so „zu Tode“, daß sie schnellstens wieder erneuert werden müssen. Die Grenzen, die überwunden werden sollen, werden in Wahrheit als Bedingung der Grenzüberschreitung gebraucht. Die Gipfel werden zwar gesucht als die Punkte, an denen mathematisch alle Linien, psychologisch alle Wünsche zusammenlaufen und wo der neue Sisyphus hofft, sich ausruhen zu können. Doch selbst die angebliche „Expedition zum Endpunkt“ ist keine. Selbst am Everest, wo Messner sich weniger als sonst „vorauslebt“, muß das „Loch“, das die „gelebte Idee“, die „Leere“, die die „realisierte Utopie“ hinterläßt, sofort wieder mit neuen Zielen gefüllt werden. Seele unterwegs wird so schlüssigerweise das Schlußkapitel der Expedition zum Endpunkt überschrieben, das wie alle Nachworte des neuen Sisiphus ein Vorwort ist. Das Sisyphusdilemma

Die Freundin, die Messner zum Everest begleitet, fragt sich vergeblich, woher „diese treibende Kraft, dieser Zwang weiterzumachen“ kommt. Allenfalls fühlt sie sich mit geschärftem Blick für seine male-Chauvinismen an Elton Johns Single Man erinnert: „I've got everything that a man could need but it still ain't quite enough.“ (Ich habe alles, was ein Mann braucht, aber es ist noch immer nicht genug.) In den Träumen seiner geschiedenen Frau taucht Messner gar als unerlöster „fliegender Holländer“ auf, der mit einem Schiff aus zerfetzten Zeltplanen über das unendliche Meer eines zerborstenen Gletschers hinsegelt. Aber das ist sichtlich nur ein weiteres mythisches Bild für die paradoxe Psychologie dieses permanenten Nomaden. Messner selbst gibt freilich ebensowenig eine Antwort. Vielmehr kokettiert er öfters mit der eigenen Unerklärlichkeit - und übersieht dabei, daß der neue Sisyphus eine durchaus typische Erscheinung ist.

Vielleicht kann man in seiner seelischen Struktur so etwas wie ein anthropologisches Grundmuster erkennen, das sich als Sisyphusdilemma bezeichnen ließe. Schopenhauers psychologische Philosophie hat es mit der Pendelbewegung des nie stillzustellenden Willens umschrieben, der heillos zwischen „Langeweile und Not“, zwischen Befriedigung und Wunsch, Besitz und Sehnsucht hin- und hergetrieben ist; der mit dem Widerstand wächst, seine Ziele aber auch nur solange erstrebenswert findet, wie sie ihm entzogen sind. Die mythologische Entsprechung bieten die antiken Chiffren der Ruhelosigkeit: das Rad des Ixion, das Faß der Danaiden, Tantalus und eben Sisyphus. Und Faust und Don Juan repräsentieren die neuzeitliche Personifikation eines Willens, der sich auf das Entzogene, auf das Hohe und Ferne richtet, dann aber erfahren muß, daß alles Ferne aus der Nähe etwas Nahes ist. Nichts tödlicher als die Erfüllung, nichts lähmender als die Sättigung, nichts aussichtsloser als die Reise, die ihr Ziel erreicht. Und alle Lust will zwar Ewigkeit, ist aber immer nur episodisch. Kurz: Jeder Gipfel ist eine enttäuschte, jede Gipfelstürmerei eine noch nicht durchschaute Illusion. Und Sisyphus muß von neuem seine Pläne wälzen. Das Prinzip Steigerung

Näher besehen, ist es freilich das Prinzip Steigerung, der Wille zur Überbietung, der regiert. Wenn Messner die Philosophen zitiert, was er öfters tut, kommt bezeichnenderweise Nitzsches Umwertung aller (Grenz-)Werte, eben sein Wille zur Steigerung, immer mehr zu Ehren, vor allem aber Max Stirners Proklamation des wortwörtlich un -definierten „Einzigen“ mit seinem potentiell grenzenlosen „Eigentum“. Und mit diesem Prinzip Steigerung wurde nichts anderes als der Wachstumswahn, die Innovationszwänge, nicht zuletzt die Konkurrenzmentalität eben der Gesellschaft, der Messner ursprünglich entgehen wollte, „zurück in die Berge“ transportiert. Die angeblich angestrebten Ziele schrumpften zu bloßen Leistungsanlässen. Die quantitative Expansion überdeckte immer mehr die intendierten neuen Lebensqualitäten. Jede Möglichkeit wurde zum Muß. Was Gegenwart und Dauer hätte sein können, ging unter in der hektischen Reanimation des Noch-nicht. Was extrem gesteigerte Selbsterfahrung sein wollte, beging nur die ziellosen Wege der durchschnittlichen instrumentellen Vernunft. Und die von Messner gerne berufene „Arena der Einsamkeit“ entpuppte sich als die vertraute Gesellschaftsarena, in der ein talentierter Sozialnomade immer effektiver den Mythos von Sisyphus agierte. Die Himalajaboutique

Mit dieser Tragödie des Sisyphus am Everest war freilich auch schon ihr Fortgang und ihr Ende programmiert. Jede von Messners Taten wurde immer wieder von neuem als das Nonplusultra der Gipfelstürmerei unters bewundernde Volk gebracht. Der Plan schließlich, alle vierzehn Achttausender zu besteigen, gehorchte nur noch der zwanghaften Logik des Steigerungswahns. Die Gesellschaft, der er einst entstiegen war, hatte ihn vollends wieder, die Tragödie des Sisyphus ihren enttäuschenden und traurigen Abschluß.

Das eigentliche Nachspiel der Tragödie des Sisyphus, nach bester Tradition eine Komödie, ja sogar eine Farce, findet indessen gegenwärtig im Saale und in der Reklamearena statt. Im Saale; denn hier inszeniert Messner, durchaus im Stil einer Großexpedition, unter Inanspruchnahme aller verfügbaren Medien inklusice zweier simultan benutzter Großleinwände, reichlicher Musikbegleitung und einer Gewittermaschine, eine Art hochtechnisierten Wagnerschen Gesamtkunstwerks, das um so weniger hält, je mehr es gemäßt dem Prinzip Steigerung will und verspricht - in der Reklamearena; denn der erfolgreichste Selbstpromoter unter den Bergsteigern beschränkt sich hier nicht mehr auf eine berufsbezogene Selbst- und Produktvermarktung, die unter den professionellen Bedingungen von heute wohl unvermeidlich ist. Er macht neben sexy Sekten und männlich-markigen Chronometern seit einiger zeit auch für Allradfahrzeuge Reklame, die die Erlebnisurlauber, die Überlebensspezialisten, die Tourismusmessenbesucher mit ihren diversen Mountain- und Safariklubs nun gewiß ganz nah an die Natur heranbringen werden, eben „zurück in die Berge“, by fair means: Sisyphus Messner - der Geschäftsführer der Himalajaboutique.

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