: Für die Mitarbeit in einem rot-grünen Projekt
(...)Die Entwicklung einer hegemoniefähigen linken Politik verlangt, sich auf den Widerspruch zwischen notwendigen radikalen Utopien und der Realität nicht nur einzulassen, sondern ihn selbst zum Gegenstand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu machen. Dazu gehört, die Verantwortung auch für kleine Schritte zu übernehmen, ohne diese schon als eigentliches Programm zu begreifen. Dazu gehört ein neues Politikkonzept, das sich nicht in Parlamentsbeschlüssen und Verwaltungsmaßnahmen erschöpft, sondern die gesamte Dimension der persönlichen Handlungsfähigkeit für möglichst viele in den Mittelpunkt rückt; denn die tiefen Veränderungen im Bewußtsein/Wertesystem können nicht in eruptiven/abstrakten Machtkämpfen, sondern nur im Alltag ihr ganzes politisches Potential entfalten. „Das Massenbewußtsein zeigt immer weniger Empfänglichkeit für abstrakte und symbolische Formulierungen einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft (für sogenannte 'ismen‘), immer größer wird das Interesse nach konkretem Erkennen und konkreten Lösungsmöglichkeiten der dieses Massenbewußtsein bewegenden Probleme.“ (G. Diligenskij aus: 'Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen‘, Moskau 3/88). Dazu gehört, die Durchsetzung einer anderen Entwicklungsrichtung nicht an Parlamente und Parteien zu knüpfen, weil sie nur als gesellschaftliches Projekt konflikt- und durchsetzungsfähig wird.
Politischen Parteien und Organisationen kommt dabei dennoch eine besondere Rolle zu: nicht mehr den Menschen fertige Programme zur Abstimmung vorzulegen (was selbst schon ein Fortschritt wäre) und sie dann zu „vertreten“ (d.h. in den vorhandenen staatlichen Mechanismen soweit wie möglich zum Tragen zu bringen), sondern die Voraussetzungen für eine problemadäquate lokale und individuelle Handlungsfähigkeit und -bereitschaft zu schaffen. (...) Dies bedeutet vor allem, die Diskussion über ein greifbares alternatives Entwicklungsmodell der BRD als Ganzes zu organisieren und alle kreativen Ideen und wissenschaftliche Erkenntnisse hierfür nutzbar zu machen.
Ansätze einer
neuformierten Linken
So verstanden, als gesellschaftliches Projekt, macht Rot -Grün Sinn, bietet in seiner Begrenztheit zugleich Ansatzpunkte für eine „revolutionäre Reformpolitik“. Dieses verlangt aber nicht nur ein neues Politikverständnis, sondern auch nach neuen Trägern. Das wichtigste dabei ist sicherlich die möglichst breite Einbeziehung der Menschen in die Erarbeitung und Entwicklung des gesellschaftlichen Ziel bzw. Reformprogramms, dies Schaffung eines Fortschrittblocks aus Arbeit, Wissenschaft, Kultur und Politik. Wichtige Entwicklungen haben sich gerade hier vollzogen, von dem Wertewandel, der sich zunehmend in persönlichem Verhalten und Anforderungen an Politik und Wirtschaft niederschlägt, bis hin zu der Diskussion um eine „andere Zukunft“, wie sie in Gewerkschaften, Friedensinitiativen, Studentenbewegung etc. begonnen hat, um über Abwehrkämpfe hinaus zu Gestaltungsfähigkeit zu kommen.
Die linken Organisationen stehen vor der Anforderung, sich mit ihren bisherigen strategischen Konzeptionen und Programmen kritisch auseinanderzusetzen und dabei viel Erstarrtes und Überholtes über Bord zu werfen. Dazu gehört, die innerlinke Auseinandersetzung von der bisherigen Ab- und Ausgrenzungspraxis sowie der taktischen „Machtkampflogik“ zugunsten eines produktiven Streits zu verändern. Strategisch notwendig ist die Neubegründung und Neuformulierung der Hauptinhalte und Richtungen humanen Fortschritts heute sowie die Entwicklung zeitgemäßer Formen ihrer Verwirklichung. Dies bedarf des bewußten Zusammenwirkens möglichst aller fortschrittlicher Politikansätze anstelle ihrer (vor allem auch organisationspolitischen) Trennung.
Politische Neuformierungen finden bereits in allen Teilen der organisierten Linken statt. In der SPD hat sich mit der Diskussion um das Grundsatzprogramm und innerhalb der Jusos eine neue „Programmlinke“ herausgebildet, in Abgrenzung zur marktwirtschaftlichen „Krisenlösungskonzeption“ von Lafontaine. Bei den Grünen hat sich mit dem „Linken Forum“ eine neue Strömung gegen den Anpassungskurs Fischers und den politikunfähigen Fundamentalismus etabliert. Schon heute verlaufen offenkundig wesentliche Diskussionslinien nicht zwischen, sondern quer zu den bisherigen Parteien, bilden sich Eckpunkte einer übergreifenden linken Strategiedebatte heraus. Kristallisationspunkt ist dabei die Frage, wie die Linke zum Motor einer neuen Reformpolitik werden kann.
In diesem Spannungsverhältnis existiert auch die „Erneuerungsströmung“, die ja im wesentlichen aus der DKP und damit der kommunistischen Tradition der BRD hervorgegangen ist. Sie hat sich zu einem großen Teil an Problemen und Frage entzündet, die auch in den anderen Parteien Ausgangspunkt für Neuformierungen waren: Entwicklung einer radikalen und fortschrittlichen Antwort auf die Krise der Zivilisation. Darin liegt zugleich ihre große Chance und Verantwortung, die „Erneuerung“ nicht parteipolitisch zu verengen, sondern sich als Teil dieser Neuformierung zu verstehen, an deren Ende mit Rot-Grün ein neues, hegemonie- und durchsetzungsfähiges Linkes Projekt für die BRD stehen muß.
Perspektive: Links bei den Grünen!?
Sicher bleibt es notwendig, die Ansätze einer Aufarbeitung unserer Fehler und die Chancen für eine zeitgemäße marxistische Politik weiter voranzutreiben; unsere „Strömung“ steht hier in einer großen Verantwortung. Dabei ist aber (unabhängig vom jetzt endgültigen Zerfall der DKP) auch unvermeidlich die Frage nach den aktuellen Inhalten und Formen revolutionärer Politik und nach dem konkreten politischen Platz von MarxistInnen aufgeworfen.
(...) Es muß heute neu und unter komplizierteren Vorzeichen als vor 141 Jahren (komplexe Probleme, Scheitern aller bekannten Sozialismusmodelle, Scheitern des Zivilisationstyps und quantitativer Fortschrittskonzepte etc.) entwickelt werden, wie sich die heute sichtbaren fortschrittlichen Strömungen, Ansätze und Utopien mit einem realen gesellschaftlichen Träger verbinden können. Viele Fragen sind wissenschaftlich und sachlich noch lange nicht gelöst, vieles müsen wir auch noch aufarbeiten; eine Weiterarbeit der Strömung in entsprechenden Formen, ein Zusammenhalt von MarxistInnen hat darin seine Berechtigung, nur: die Träger und die neuen Politikkonzepte ergeben sich daraus nicht. Wir brauchen gerade als marxistische Strömung Klarheit darüber, daß der entscheidende Träger eben in der Herausbildung eines gemeinsamen linken Projektes Rot-Grün geschaffen werden muß. Und wir brauchen gerade als marxistische Strömung die Mitarbeit in den real vorhandenen politischen Strukturen, die sich auf dieses Projekt beziehen.
(...) Eine Stärkung der Grünen, eine Erhöhung ihrer politischen Autonomie ist eine notwendige Voraussetzung für den „parlamentarischen“ Teil des Rot-Grünen Projektes. Und unsere Mitarbeit dort wäre ein praktischer Schritt, die ja nach wie vor vorhandenen politischen Potentiale der Arbeiterbewegung mit den in den 70er und 80er Jahren neu entstandenen Fortschrittslinien und -Konzepten zusammenzubringen. Marxistische Strömung plus linke Politik bei den Grünen - darin liegt m.E. die strategische Perspektive der Erneuerung.
Frank Iwer
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