: Die SED krenzt Honecker aus Letztes Aufgebot gegen DDR-Protest
■ Das ZK der SED schickt Honecker in Pension und Egon Krenz an die Partei- und Staatsspitze / Neuer DDR-Chef ein Wahlfälscher und Chinafreund / Auch Hardliner Herrmann und Mittag im Vorruhestand / Opposition unzufrieden mit „kosmetischen Korrekturen“
Berlin (taz/ap/dpa) - Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands tauscht ihr Spitzenpersonal aus: Egon Krenz (52) löst Erich Honecker (77) ab. In den Vorruhestand schickte die Partei zwei Stunden später den für die marode Ökonomie verantwortlichen Günter Mittag sowie den für Agitation und Propaganda (Massenmedien) zuständigen Joachim Herrmann. Beide flogen aus dem Politbüro und verloren den Sekretärsstuhl im ZK. Damit will die SED der Unruhe im Land Herr werden. Ein erstes Zuckerl reichte er noch am Abend: Den Hinweis auf baldige Aufhebung von Reisebschränkungen für die DDR-BürgerInnen.
Doch bereits zehn Minuten nach der Bekanntgabe des Honecker -Abgangs meldete die Opposition Kritik an. Ein Sprecher des Neuen Forums im taz-Interview: „Die politische Bewegung ist zu weit, als daß sie sich mit kosmetischen Korrekturen abspeisen ließe.“ Die Opposition wünscht weitere Rücktritte
-und insbesondere „strukturelle Reformen“.
Exakt zwölf Minuten nach Beginn der Sitzung des ZKs um 14.00 Uhr gestern meldete die DDR-Nachrichtenagentur lakonisch den Vollzug vorausgegangener Entscheidungen: „Zum Generalsekretär des Zentralkomitees der SED hat die 9.Tagung des Zentralkomitees am Mittwoch nachmittag Egon Krenz gewählt.“ Das ZK schlug Krenz auch als Vorsitzenden des Staatsrats und des Nationalen Verteidigungsrates vor. Noch nicht mal ein Repräsentations- und Reiseposten bleibt Honecker. Der seit 1971 amtierende Exdachdecker verabschiedete sich - entsprechend der internationalen Verlogenheiten bei solchen Gelegenheiten - mit dem Hinweis auf seinen schlechten Gesundheitszustand von der politischen Bühne.
Der erste, der Krenz Glück wünschte, war der sowjetische Kollege Gorbatschow. Der neu Gekürte sprach in einer ersten Stellungnahme einer strahlenden DDR-Fernsehreporterin gegenüber von einer „schweren Aufgabe in komplizierter Zeit“, die „Arbeit, die Freude machen soll“, bedeute. Er wolle die „politische und ideologische Offensive“ wieder erlangen - gegenüber der Opposition, wie unausgesprochen in seinen Worten mitschwang. Krenz war in der SED bisher zuständig für Sicherheit, Kaderfragen, Jugend und Sport (siehe Seite 2).
Für die Opposition gilt Krenz als „Kandidat Honeckers“, wie Reinhard Schult, ein Sprecher des Neuen Forums, gegenüber der taz sagte. Schult erinnerte an Krenz‘ Verantwortung „für alle Übergriffe der letzten Jahre (...) und das Vorgehen gegen friedliche Demonstranten in den letzten Jahren“. Hervorgetan hat Krenz sich weniger als reformbeseelter Politiker denn als mitverantwortlich für die Wahlfälschung bei den Kommunalwahlen im Mai 1987. Die chinesische Führung beglückwünschte er zu ihrem gewaltsamen Vorgehen gegen die dortige Demokratiebewegung. Die letztgenannten Ereignisse bildeten einen Auslöser für die Reformbewegung in der DDR, die Honecker zu Fall brachte.
Den Pessimismus der Opposition scheint die Antrittsrede Krenz‘, die gestern ab 20.00 Uhr eine Dreiviertel Stunde lang über die DDR-Fernsehschirme flimmerte, rechtzugeben. Honeckers Ziehsohn holte reichlich abgenutzte Sprachhülsen aus der Rumpelkammer der Parteirhetoriker-Schulung, formulierte blumige Appelle an alle nur möglichen Gesellschaftsschichten.
Immerhin floß eine Dosis Selbstkritik in die vom Blatt abgelesene Erklärung mit ein: Man habe in der SED „in den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung im Lande nicht real genug gesehen“. Dies nachgeholt, gelte es, „die ideologische und politische Offensive wieder zu gewinnen“. Für die nahe Zukunft kündigte Krenz ein weiteres ZK-Plenum an, das in Arbeitsgruppen vorbereitet werde. Krenz gebrauchte gar das Wort von der „Wende“, die eingeläutet sei.
Die Ursachen der „Verschärfung der Widersprüche“ in den letzten Wochen, die der Partei etwas aus dem Blick geraten sei, suchte Krenz hauptsächlich in ökonomischen Mängeln. Seine Appelle galtern dem „Fleiß“ und dem „Veränderungswillen“ der Arbeiterklasse, die Mittel zur Veränderung suchte er im Arsenal der Parteistatuten, in denen „Kritik und Selbstkritik“ verankert seien, die jetzt in die Praxis umgesetzt werden müßten.
Während Oppositionsgruppen wie das Neue Forum in der Krenz -Rede völlig unerwähnt blieben, hofierte er den Bündnisparteien der SED wie Ost-CDU und LPDP: Sie hätten „Unverzichtbares“ geleistet. Auch an den Türen der Kirchen klopfte der neue Generalsekretär beschwörend an: „Uns verbindet viel mehr als uns trennt“, rief er in einer der wenigen auch nur etwas emotional geprägten Stellen seiner Ansprache aus. Unverkennbar sein Bemühen, Protest und Widerstand zu kanalisieren, in den Griff zu bekommen und sich dabei von den jeweiligen Ansprechpartnern helfen zu lassen. Über die hunderttausend in den letzten Wochen Weggegangenen zeigte sich Krenz betroffen: „Ein Aderlaß, „eine Wunde, die wir nicht so bald verschmerzen werden“. Er bat alle Ausreisewilligen, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken.
Im übrigen beschwor er die Einheit von Partei und Volk: Die Partei habe durch die „Einheit von Wort und Tat“ Anerkennung gefunden, „neue Taten“ bräuchte man in „allen Bereichen unseres Lebens“. Sie wären sozusagen unausweichbar, da die „sozialistische Gesellschaft“ qua Definition „auf Veränderung dränge“. Krenz ließ keinen Zweifel am Monopolanspruch der SED.
Dem Wechsel in der Partei- und Staatsführung der DDR wurde gestern allgemein entgegengefierbert. Noch in der Nacht erfuhr die taz aus Moskau, daß der „18.Oktober ein historischer Tag für die DDR“ werde. Mittags riet Willy Brandt, eben von Gorbatschow zurückgekehrt, Journalisten: „Lesen sie heute nachmittag die Tickermeldungen.“ Aus denen erfuhr dann auch Kanzler Kohl die Neuigkeiten. In ersten Reaktionen sprachen die Grünen von einem bloßen Wechsel der Personen, denen ein Wechsel der Politik folgern müssen. Alle bundesrepuzblikanischen Parteien waren sich einig in ihrer Hoffnung auf baldige Reformen.
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