: Kaum Vertrauen zum Genossen Krenz
■ Opposition schätzt neuen DDR-Chef als „Übergangskandidat“ ein und kündigt neue Aktionen an / Scharfe Kritik aus Betrieben, als Krenz den Antrittsbesuch bei der Arbeiterklasse macht / SED-Kreisleitung Potsdam bietet Neuem Forum Mitarbeit in der „Nationalen Front“ an
Berlin (dpa/taz) - Die Arbeiterklasse, deren Solidarität er in seiner Antrittsrede beschworen hatte, bereitete Egon Krenz einen bitteren Empfang. Mehrere Stunden mußte der neue Mann der DDR sich gestern bei einem demonstrativen Besuch im Ostberliner Maschinenkombinat „7.Oktober“ scharfe Kritik anhören. Hier wie überall in der DDR schlägt dem Generalsekretär tiefes Mißtrauen entgegen.
Kaum jemand glaubt, daß Egon Krenz tiefgreifende Reformen in die politische Praxis umsetzt. Viele Arbeiter in Magedeburg kamen nach Krenz‘ Amtsantritt spontan aus den Betrieben zum Neuen Forum (NF): „Uns reicht's, wir wollen Reformen, jetzt treten wir beim Neuen Forum ein“, zitierte ein NF-Vertreter der taz gegenüber die Reaktionen auf die Botschaft aus Ost-Berlin. „Führt Krenz keine Reformen ein, dann gibt's für uns nur eine Arbeit: den Druck qualitativ und quantitativ erhöhen“, kündigte er an. Für die verschiedenen Gruppen der Opposition ist Krenz lediglich ein „Übergangskandidat“, wie Ulrike Poppe von der Gruppe „Demokratie jetzt!“ der taz sagte. „Ich denke, die alte Politik wird fortgesetzt“, meinte Bärbel Bohley. Der Schriftsteller Rolf Schneider schilderte die Stimmung in der DDR als „jammervoll schlecht“.
Zur ersten Demonstration nach dem Machtwechsel kam es in Greifswald: Nach einer Friedensandacht, an der 2.000 Menschen teilnahmen, zogen mehrere hundert durch die Straßen und forderten „Demokratie - jetzt oder nie!“. Bürgerrechtler berichteten von einem kurzen Streik beim Ostberliner Glühlampenproduzenten „Narva“.
Die Politik der vorsichtigen kleinen Schritte gegenüber der Opposition setzte sich gestern fort. Die SED-Kreisleitung Potsdam bot dem Neuen Forum die Mitarbeit in der „Nationalen Front“, dem Zusammenschluß der Blockparteien an. Das sei ein Angebot, über das man reden könne, sagte ein NF-Vertreter. Eine von Berliner Theaterleuten für den 19. November angekündigte Demonstration soll inzwischen genehmigt worden sein.
Krenz selbst traf nach seinem Antrittsbesuch bei der Arbeiterklasse den Vorsitzenden der evangelischen Bischofskonferenz Leich und Amtsbrüder. Konsistorialpräsident Stolpe, der an dem Gespräch teilnahm, äußerte vorsichtigen Optimismus: Krenz habe zu verstehen gegeben, daß er Gorbatschows Reformpolitik für „wegweisend und auch für die DDR verpflichtend“ ansehe.
Die Opposition wird Krenz keine lange Atempause geben: Für Montag sind wieder Kundgebungen angekündigt. 10.000 erwarten die Madgeburger Oppsoitionellen und signalisieren Nachholbedarf: „Leipzig kann doch nicht der einzige Leuchtturm der Bewegung sein.“
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