piwik no script img

Angekommen im „guten Land“

■ Aus der Sowjetunion und einer anderen Zeit kamen PfingstlerInnen nach Bremen

Einer der Männer, die im Wechsel vortreten und Gottes Wort bezeugen, hat erst vor vier Tagen dieses Land betreten und „sich erfreuet an der schenen Natur“. „Dies ist ein gutes Land“, sagt ein anderer, und daß sie noch nie in einer so großen Gemeinde wie hier zusammen waren. Er warnt mit Moses 5, „murrech“ zu sein. Das Volk Israel nachdem der Herr es durch die Wüste in ein gutes Land geführt hat, ist 2000 Jahre gestraft worden, weil weil es so „murrech“ (mürrisch) war.

An die dreihundert Gläubige der Evangeliumschristengemeinde haben sich wie jeden Sonntag versammelt. Es ist der zweite überfüllte Gottesdienst im Gemeindezentrum in der Vahr. PfingstlerInnen, die aus Gemeinden in der Sowjetunion in das „Land unserer Väter und Großväter“ gekommen sind, haben den Industriebau für 1,5 Mio. gekauft. Hier „im freien Westen, wo viele Menschen nicht mehr dazu kommen, Gottes Wort zu lesen“, wie einer sagt, dürfen sie endlich ihren Glauben ungestört leben. Hier gelten sie auch nicht mehr als „Faschisten“, weil sie Deutsche sind.

Aber sonst ist es wie ehedem. Zur Linken sitzen die Frauen, als biblisches Zeichen, daß sie dem Manne untertan, unter Kopftüchern, von bäurisch geblümt bis perlonzart und golddurchwirkt. Rechts sitzen die Männer, alle, nicht nur die Greise, alle in Sonntagshosen, keiner in Jeans. Die vielen Kinder sind überall. „In schönen Kleidern, rein und unbefleckt, wie eine Braut“, so soll die Gemeinde Christus erwarten, sagt gerade einer in jenem schweren Deutsch, das für mich zwischen Ostpreußisch und Jiddisch angesiedelt ist. Obwohl dies ein „gutes Land“ ist, wird es nicht von Dauer sein, denn das Feuer des Weltenendes wird kommen und alle Werke zerstören. Wieder ein anderer hat von der Feuersäule geträumt, nach der die Erde schwarz und leer zurückblieb. Aber er selbst ist gerettet worden, der Gott angerufen hat und ins Gemeindehaus zu den Gläubigen gegangen ist...

Ja, Singen ist auch, wenn die Männer mit ihren psalmodierenden Auslegungen zu Ende sind, singt die Gemeinde ziehend, schwermütig-gefühlig, volksliedartig. Die jungen Mädchen hinten, alle in Röcken, schönglänzend, wie Schneeweißchen und Rosenrot, nutzen die Situation dann schon mal zu einem kleinen Tuscheln. Und plötzlich fallen alle auf die Knie und reden und wimmern und stammeln zu ihrem Gott, tupfen die Augen mit Taschentüchern. Und dann flaut alles ab, bis auf eine einzeln preisende Männerstimme oder eine ekstatisch jammernde Frau. So geht das über zwei Stunden, und als es zu Ende ist, steht noch ein weißhaariger Mann auf und muß auch noch Zeugnis ablegen, lange. (P.S.: Vieles vergeht, nur die Redewut der Männer besteht.)

Uta Stolle

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen