: „Nur wenige Pässe öffnen ihm das Land“
■ „Wilhelm Tell“, ein Gastspiel des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin unter Regie von Christoph Schroth, hochaktuell in Ost-Berlin
Vor dem Rütli-Schwur summen die Eidgenossen die Marseillaise. Später steht Tell auf dem Balkon, von dem aus einst Karl Liebknecht die freie, sozialistische Republik ausrief. Heute ist der Balkon ein Fremdkörper im Staatsratsgebäude, in dessen Fassade dieser Teil des preußischen Stadtschlosses eingezwängt wurde. Aus solch bedeutungsvoller Kulisse erschießt Tell den Tyrannen Geßler. Damit ist der politische Standpunkt fixiert, von dem aus der Regisseur den Klassiker aktualisiert.
Geplant hat Christoph Schroth die Inszenierung im Zusammenhang mit den Feiern zur Französischen Revolution. „Tell“ bot sich an, weil er eine Kultfigur jener Zeit in Frankreich war. Und wie von Schroth nicht anders zu erwarten, sollte die Inszenierung auch die Frage provozieren, was denn in der DDR aus den Werten geworden ist, für die Schiller stritt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. „Als wir die Inszenierung Anfang dieses Jahres konzipierten, war all das, was im Stück verhandelt wird, noch ein schöner Traum für uns“, sagte Bühnenbildner Lothar Scharsich während einer Diskussion mit dem Volksbühnen-Publikum. Inzwischen habe die Realität das Stück eingeholt. Zur Zeit der Aufführung wurde schon über die Legalisierung des Neuen Forums verhandelt, auf der Bühne tun sich drei oppositionelle Gruppen zur Eidgenossenschaft zusammen und beschließen: „Bezähme jeder die gerechte Wut / Und spare für das Ganze seine Rache, / Denn Raub begeht am allgemeinen Gut, / Wer selbst sich hilft in seiner eignen Sache.“ Das betrifft die DDR-Flüchtlinge und fragt nach dem richtigen Zeitpunkt, das Diskutieren zu beenden und zur Tat zu schreiten. Als es wenig später von der Bühne tönt: „Wer ist so feig, der jetzt noch könnte zagen!?“, war das Publikum ein Herz und eine Kehle. Die nötigen Mutmacher werden nachgeschoben, von Tell: „Wanken auch die Berge selbst? Es steht nichts fest auf Erden.“ Und von Freiherr Attinghausen: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, / Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“ Und weil's so schön ist, variiert der alte Revolutionär: „Das Neue dringt herein mit Macht, ... andre Zeiten kommen, / Es lebt ein andersdenkendes Geschlecht!“ Von Anfang an beziehen die Zuschauer die Aufführung auf die aktuelle Situation in ihrer Republik. Zu Beginn sitzen da drei Helden der Freizeit beim Arbeiterbier - zwei im Liegestuhl, ein dritter grillt Schweinefleisch -, da meint plötzlich einer: „Der Sturm wird da sein, eh wir's denken.“ - „Ein Gewitter ist im Anzug“, weiß auch der andere. Stürmischer Beifall.
Und so nimmt die Geschichte ihren Lauf. Bis hin zur Versammlung auf dem Rütli, die Schroth mit sanfter Ironie inszenierte. „Solche ersten Gehversuche in Sachen Demokratie haben auch etwas rührend Komisches und Unbedarftes, das haben wir ja in der letzten Zeit alle selbst erlebt“, meint der Regisseur. Die Eidgenossen schleichen sich wie beim Indianerspiel in die Lichtung, jeder hat einen Stuhl mitgebracht. Dann gibt es erstmal ein absurdes Hin und Her um die Sitzordnung, geklärt werden muß auch noch, „welchem nun gebührt, das Haupt zu geben der Gemeinde“. Als der Tyrann beseitigt und die Zwingburg Uri gefallen ist, beginnen die Mühen der Ebene. In den Freudentaumel mischen sich realistische Töne: „Das Werk ist angefangen, nicht vollendet“, mahnt Walther Fürst. Jeder Satz von Schiller ist plötzlich aktuell. Gelegentlich reagieren die Zuschauer wie der Pawlowsche Hund. „Nur wenige Pässe öffnen ihm das Land.“ Gemeint ist der Feind von Außen, der mit seiner Heeresmacht kaum Zugang durch die Berge finden würde. Das Publikum denkt an Reisegenehmigungen - ein Mißverständnis mit fatalem Hindersinn. Man erklärt sich das als Übersensibilität und Übermüdung nach all den schlaflosen Nächten. Aber in der Diskussion zeigt sich doch, daß viele das Stück allzu platt auf die DDR-Wirklichkeit bezogen. Die Ermordung Geßlers wird nicht - kunstgemäß - als Chiffre für die Entmachtung eines Herrschers verstanden, der gegen das Volk regiert, sondern als Aufforderung zur Gewalt gegen die Unterdrücker. „Wir haben doch geschworen, gewaltlos vorzugehen“, muß sich Schroth beharrlich mahnen lassen. Der Regisseur warnt vor einer kurzschlüssigen Rezeption: „Wir haben es doch nicht mit einem Personaltyrannen zu tun, sondern mit einem politischen System.“ Überhaupt sei die Unterscheidung zwischen Mord und politischem Attentat nur unter Hitlers Diktatur diskutiert worden und der Streit längst entschieden. Deshalb habe er auch die Rechtfertigung des Attentats in Schillers Parricida-Szene gestrichen. In der Tat spielt Schroths Inszenierung in diesem Punkt deutlich auf Hitler an, denn Geßlers Gehilfe hinkt wie einst Goebbels.
Im übrigen aber zielt der Regisseur unmittelbar auf die DDR -Verhältnisse: Die Hochzeitsgäste stehen Spalier und winken mit Blumen, als Geßler durch die hohle Gasse kommt, und lachen sich hinter seinem Rücken kaputt; der Hut, den Geßler gegrüßt wissen will, damit das Volk lerne, den Nacken zu beugen, ist auf ein Bild gemalt. Krawatte und winkende Hand komplettieren das Bild. Ursprünglich war noch ein Gesicht unter den Hut gemalt mit unmißverständlicher Politikermiene. Das verbaten sich aber die Zensoren, und so sitzt der Hut halt auf einem Nichts, das gefiel ihnen wohl besser. Anstoß nahmen die Zensoren auch an den Schildern mit der Aufschrift „Ende der Sektorengrenze“. Sie sollten an der Baustelle für die Zwingburg Uri aufgestellt werden. Nun steht auf den Schildern nur „Sperrgebiet“. Als am Ende des Stücks die Mauern der Zwingburg gesprengt werden - das Getöse des Dynamits wurde fast vom Jubel des Publikums übertönt -, da verließ eine Zuschauerin den Saal und knallte die Tür empört hinter sich zu. Nicht nur im Zentralkomitee sitzen Betonköpfe.
Ellen Brandt
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