: Demonstrationen gehören zum Dialog
■ Potsdamer Oppositionelle melden Kundgebung offiziell an / Spontandemonstration am Samstag / Verärgerung über Befriedungsversuche der Kirchenleitung / Jugendliche „Antifas“ befürchten Ausgrenzung
Potsdam (taz) - Um bei der Vorbereitung von Demonstrationen nicht länger auf Flüsterpropaganda angewiesen zu sein, haben DDR-Oppositionelle in Potsdam „im Geiste des Neuen Forums“ für den 4. November eine Kundgebung in der Innenstadt offiziell bei der Volkspolizei angemeldet. Sollte die Kundgebung aus Fristgründen nicht zugelassen werden, will man als Kompromißtermin auf den 19. November ausweichen. Sollte auch das verboten werden, wird die Demonstration ohne Genehmigung stattfinden. Auf dieses Vorgehen einigte sich am Samstag abend eine große Mehrheit der etwa 600 TeilnehmerInnen einer Andacht in der Potsdamer Erlöserkirche.
Am Nachmittag war in der Stadt eine unangemeldete Demonstration mit mehreren hundert TeilnehmerInnen friedlich zu Ende gegangen. Dabei waren Transparente mit Aufschriften wie „Keine Repressalien für politisch Engagierte“ und „Abrüstung für Sicherheitsorgane - Dialog statt Gummiknüppel“ gezeigt worden.
Im Verlauf der allwöchentlichen „Andacht aktuell“ in der Erlöserkirche sorgten Aufforderungen der Kirchenleitung für Verärgerung, in denen zum Verzicht auf Demonstrationen in der gegenwärtigen Situation aufgerufen wird.
Gemeindepfarrer Martin Kwaschik wandte sich insbesondere gegen einen Leitartikel, den der Generalsuperintendent der Evangelischen Kirche von Mark Brandenburg, Günter Bransch, in der aktuellen Ausgabe der Potsdamer Kirchenzeitung veröffentlicht hatte. Unter der Überschrift „Mut zur Besonnenheit“ warnt der Kirchenobere in gewundenen Formulierungen „vor ungesetzlichen demonstrativen Handlungen“ und hofft, daß „die Möglichkeiten der Staatsmacht, gewaltsam den eigenen Ordnungswillen durchzusetzen, nach Möglichkeit nicht zur Anwendung kommen“.
Für Kwaschik gehören dagegen „auch Demonstrationen zum Dialog“. Statt „Mut zur Besonnenheit“ verlangte er „Mut zur Veränderung“. Gleichzeitig setzte sich Kwaschik deutlich von einer sogenannten „Antifa-Gruppe“ jugendlicher Demonstranten ab, die am Nachmittag die nicht angemeldete Demonstration getragen hatte. Er wolle, daß auch „viele auf die Straße gehen, die gegen die Antifas Vorurteile haben“, meinte Kwaschik.
Die Mitglieder der „Antifa-Gruppe“, aus deren Reihen die meisten der am 7. Oktober in Potsdam Verhafteten stammten, waren nicht nur in der Parteipresse als „Schläger“ und „Rowdies“ denunziert worden. Kwaschik wurde vorgeworfen, mit seiner Position ungewollt die „Ausgrenzung“ zu vertiefen. „Aus Diskussionen allein kommt keine Ermutigung“, rief eine der DemonstrantInnen. Ein Krankenpfleger erntete tosenden Applaus für sein Bekenntnis, er habe „ein geradezu körperliches Bedürfnis nach Demonstrationen“.
Völlig isoliert blieb Kreisjugendpfarrer Christian Weinmann, der die Ankündigung, künftig auch dann zu demonstrieren, wenn eine Genehmigung nicht erteilt wird, als „Erpressung“ bezeichnete. „Wer erpreßt denn hier wen?“ empörte sich eine junge Frau. Ein Gärtner aus Werder provozierte großen Beifall mit der Frage: „Was wäre wohl in Leipzig, Berlin und Dresden ohne diese Erpressung bewegt worden?“
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