„Früher“ - das ist die Zeit vor dem Massenexodus

■ Das schwierige Alltagsleben in Ost-Berlin / Durch die Fluchtwelle wird das Leben trauriger / Die neue Verlassenheit - und der schwere Unterschied zwischen Haß und Trauer

„Kinderkombination“. Hinter diesem real-existierenden DDR -sozialistischen Wortungetüm verbergen sich Kinderkrippe, Kindergarten und Vorschule in einem Haus. In so einem Haus werden eltern- und produktionsfreundlich Kinder betreut, erzogen und belehrt, täglich von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends. In der „Kinderkombination Rosa Thälmann“ zum Beispiel, im Süden von Ost-Berlin, sind das ungefähr 150 Kinder. Die Einrichtung hat für ihre „vorbildliche pädagogische Leistung“ noch vor wenigen Monaten ein behördliches Lob bekommen. Das war vor der Ausreisewelle. Jetzt sieht es traurig um die „pädagogische Leistung“ aus. Es liegt nicht an den Kindern, die sind da wie immer. Es liegt an den Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen; die sind nämlich nicht mehr da. Moni K. zum Beispiel betreute im Sommer zwölf Kinder im Alter von vier bis sieben Jahren in einer Bastelgruppe. Im September mußte sie zehn neue Kinder in ihre Gruppe aufnehmen, die Kollegin aus der Parallelgruppe war aus dem Ungarnurlaub nicht mehr zurückgekehrt. „Ich war nur noch mit Feuerwehraufträgen beschäftigt, mit so vielen Kinder basteln, war unmöglich..., eine sinnvolle Betreuung illusorisch“, erzählt sie resigniert.

Noch schlimmer sieht es in einem ähnlichen Haus am Prenzlauer Berg aus. Dort sind zwischen August und Oktober drei von zehn Kindergärtnerinnen sowie die Küchenhilfe abgehauen. In der Küche hilft jetzt eine Praktikantin aus, das Essen kommt fast kalt in den Speiseraum. Frisch zubereitete Speisen gibt es überhaupt nicht mehr. Die Praktikantin fehlt bei der „Kinderarbeit“. Eine Erzieherin beaufsichtigt jetzt alleine eine Gruppe von 40 unzufriedenen und quengeligen Kindern. Auf einer Elternversammlung wurden vergangene Woche die Konsequenzen dieser „Kinderverwahrung“ diskutiert. „Ein Eiertanz“ befand eine Mutter, „wir haben die Flüchtlinge verflucht und würden am liebsten selbst gehen.“

Christine A., Gemeindemitglied der Gethsemane-Kirche, wird das nicht tun, „obwohl es mir bis zum Stehkragen reicht“. Erklären kann sie ihr Dableiben nicht, sie hofft auf bessere Zeiten. Christine arbeitet in einer Innenstadtbuchhandlung, verdient 800 Mark im Monat und ernährt davon ein schulpflichtiges Kind. Für neue Schuhe reicht das Geld kaum, die alten werden deshalb immer wieder neu verklebt, genäht und besohlt. Früher gab es zwei Schuhmacher in ihrem Kiez, einer hat jetzt aus „betriebstechnischen Gründen“ geschlossen, der zweite ist völlig überlastet. „Er nimmt einmal pro Monat an einem bestimmten Tag neue Arbeitsaufträge an, aber nicht mehr als insgesamt 500 Paar. Komme ich um zehn mit meinem Stapel Schuhe, ist es schon zu spät, er hat schon 500, und ich kann einen Monat weiter hoffen, daß es nicht regnet.“

Christine sympathisiert mit der Bewegung „Demokratie jetzt“, beteiligt sich aber nicht an Mahnwachen oder Demonstrationen. Dazu hat sie gar keine Zeit, viel zu sehr ist sie mit der Organisation ihres Alltagslebens beschäftigt. „Alles ist mühsamer geworden in den letzten Wochen, dabei war es doch früher schon anstrengend genug.“ Früher - und das ist die neue Zeiteinteilung, war vor dem Massenexodus. Und heute ist nur heute, die nächsten 24 Stunden. In ihrer Straße am Prenzlauer Berg gab es „früher“ vier Bäcker und eine „Produktionsgenossenschaft des Bäckereihandwerks“. Heute gibt es nur noch eine Bäckerei und die Produktionsgenossenschaft. Dort wird der Betrieb nur noch provisorisch aufrecht erhalten, der Genossenschaft sind die Bäcker in den Westen gelaufen. „Ich habe jeden Morgen Angst, daß wieder ein Zettel mit der Aufschrift 'Aus organisatorischen Gründen geschlossen‘ an der Tür hängt.“ Christine kann heruntergelassene Rolläden vor den Schaufenstern nicht mehr ertragen, hinter jedem vermutet sie Weggegangene. „Es ist schon schlimm genug, den Telefonhörer abzunehmen und zu hören, daß wieder jemand nach Budapest gefahren ist. Wir fühlen uns im Stich gelassen, zwischen Haß und Trauer kann ich nicht mehr unterscheiden.“ Zu dieser neuen Verlassenheit kommt hinzu, daß das ganz normale Leben durch die Fluchtwelle schwerer geworden ist, „das Einkaufen dauert länger, wird komplizierter, die Versorgung schlechter“. Früher ging Christiane während ihrer Mittagspause einkaufen, bald wird das nicht mehr möglich sein, „denn dem Kaufhaus Centrum sind so viele Kassiererinnen weggelaufen, daß sich hinter den geöffneten Kassen ewig lange Schlangen drängeln“. Dringend müßte Christine zum Hals-Nasen-Ohrenarzt, der Vertrauensarzt ist aber „im Urlaub“ und die Vertretung weit weg in Oranienburg. Restaurants besucht sie nicht mehr, sie weiß, daß vor allem in den HO-Gaststätten die Kellner gleich zu Dutzenden fehlen.

„Es ist ein Teufelskreis, viele gehen, weil andere gegangen sind.“ Das Westfernsehen mit den täglichen „Ausreißerstatistiken“ möchte sie nicht mehr einschalten, das „blubbrige Freiheitsgedusel“ der Politiker kann sie nicht mehr hören. „Die tun, als ob hier Panzer wie in China rollen“, kommentiert sie die Freundentränen der Westankömmlinge. Trotz ihrer Wut auf die „Deserteure“ (diese „Egoisten“), kann sie die Flüchtenden aber auch verstehen: „Es ist alles so grau hier, am Prenzlauer Berg verfallen die alten Häuser..., und wir werden älter, ohne gelebt zu haben.“

Der Aschenbecher ist voll, Christine steckt sich die wer -weiß-wievielte Zigarette an, der 13jährige Sohn ist mit seiner handgeschriebenen Schülerzeitung fertig. Sein Aufmacher ist ein Bericht über Stasi-Verhaftungen am Abend des 7.Oktobers.

Anita Kugler