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■ Das 2. Altentheaterfestival: Über Mulche, Dreißigjährige und eine streikende Altherrenriege

Es war mal wieder so richtig schön dezentral. Zum Beispiel lag der Veranstaltungsort genau zwischen der U-Bahnlinie und auf halber Strecke einer relativ selten befahrenen Buslinie, dafür aber in der Nachbarschaft. An solchen Orten befinden sich deshalb „Nachbarschaftsheime“, Beschäftigungsstätten für Nichtteilnehmer am Produktionsnetz; entsprechend sind dort für gewöhnlich anzutreffen: lärmende Jungarbeitslose, lebenslustige RentnerInnen und latent bedrohte Sozialpädagogenexistenzen. Das Ambiente changiert zwischen Jugendgästehaus und Volkshochschulcafeteria, es ist familiär oder gar nicht, und die ganze nette Einrichtung bedrückt „wegen der Umstände, aber das hätt's doch net braucht“, wie meine Mutter zu sagen pflegte. (Danach legte niemand mehr die Füße auf den Tisch.) Jedenfalls wird mir zeitlebens ein Rätsel bleiben, mit welcher Geschwindigkeit Alt & Jung nach fast jeder Veranstaltung dem wechselnden Festivalort entfloh, um sich drei Stunden später als fraktale Ordnung wieder einzufinden, dezentral nach Wahl: im Kulturhaus Spandau, im Nachbarschaftsheim Urbanstraße oder in der Pumpe in der Lützowstraße.

In einer Zeit

Der Berliner Gastgeber, das Theater der Erfahrungen (ein von der Gesundheits- und Sozialverwaltung geförderter Zusammenschluß dreier bezirklich gesplitteter Altentheatergruppen) wollte es so haben, damit auch Nicht -Theatergänger zum Festival finden. Aber wie das so üblich ist bei geförderten „wichtigen“ Veranstaltungen, je wärmer die Worte, desto windiger das öffentliche Interesse. Von Lachen und Weinen sprach der Staatssekretär auf dem grünen Teppich, von reichen Erfahrungen und „gesammelten Tränen“, und ermunterte die Alten gar zum Umsturz: Das Theater möge „Dinge wegreißen, die Entwicklungen behindern“. Doch die Kulturverwaltungsdame Sigrid Eisfeller mit dem sozialdemokratischen Feingefühl für den kleinsten gemeinsamen Allgemeinplatz machte wieder alles zunichte: „Theater ist für alle da, für Leute mit und ohne Abitur, an jedem Ort, zu jeder Zeit...“ Wo doch die Dankesrede des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes an den spendenden Senatsvertreter mit den Positiv-Randgrüppel-Worten begann: „Gerade in einer Zeit...“

Es war auch die Rede von „sinnvollen Freizeitbeschäftigungen“, als müsse man die Gesellschaft vor unsinntreibenden Alten bewahren. Das Frauenkabarett Beißzange aus Stuttgart nahm sich die weisen Worte zu Herzen und lud zwei Tage später in die Talkshow ein: Frau Müller-Schaumburg, die im hohen Alter die moderne Kunst mit rosa Hoffnungskugeln auf monochromem Grund bereichert; Jungsozialpädagogin Sabine Helferich, die verschiedene Beschäftigungsprogramme für sich & die Alten eingerichtet hat; und eine Dritte, die für „Kultur auf kleinstem Raum“, die allgegenwärtige Klorollenhäkelei kämpft... Übrigens sind die Zielgruppe dieser jung-alt-gemischten Frauentheatergruppe die Dreißigjährigen - die, die in eine Gesellschaft hineinwachsen, in der jeder Dritte über 60, und zwar weiblich ist. Die Beißzange läßt sich zwar auch für Altenheime anfordern. Aber im Grunde hält sie es für zynisch, die Komplexe der Jugend, die das Älterwerden psychisch nicht verkraftet, den Alten vorzuspielen.

Spannende Alte

„Das kommt bestimmt unheimlich gut! Ein Flötenkonzert nur mit alten Frauen!“ jubelt Geri, die bei der Altenbetreuung viel kassenfreies Engagement mitbringt. Sie studiert nämlich am lebenden Beispiel Alterspsychologie und findet die Alten „irgendwie putzig“. Den Prototyp der neuen Helferin hat die gemischtgealterte Gruppe 6 Richtige (ein gruppenübergreifendes Projekt des Theaters der Erfahrungen) in ihrem neuen Stück „Unkraut vergeht nicht“ entwickelt. Geri will alles, was sie an Altem in der Kleingärtnerkolonie finden kann, zur angeleiteten Kreativität zwangsverpflichten. Aber die Gruppe aus alten und jungen Frauen, die sich über die Zäune hinweg kennenlernt, entwickelt ohne ihre Hilfe Ideen, und Geri ist es schließlich, die integriert wird.

„Mit meiner Nachbarin, Frau Reich / bereit ich ein‘ Komplott zugleich“, singt die alte Tante Elli arien-vergnügt in sich hinein. Den täglichen privaten Aufstand probt sie sowieso: Auf dem Friedhof plaudert sie mit ihrer toten Schwester, trinkt ein Glas Sekt auf deren Geburtstag, nimmt eine junge Metzgereiverkäuferin mit Wurst- und Weltschmerz mit zu sich in die Laube. Aber das eigentliche Komplott ist die stillschweigende Übereinkunft, daß die Lebensfreude, die auf Imagination gebaut ist, durch keine besserwisserische Sozialstrategie zu ersetzen ist. Wenn Tante Elli über das Verschwinden der „Mulche“ in ihrem Garten klagt, und Geri, nachdem sie lange an der realen Existenz dieser Wesen gezweifelt hat, schließlich zur Beschwichtigung übergeht „Sie werden schon wieder kommen“ -, greift Tante Elli an: „Es gibt keine Mulche, du dumme Gans.“

Auch einige Gastgruppen haben ihre HelferInnen mitgebracht, sprechende Figuren, Theaterpädagogen, die in Nürnberg gemerkt haben, „Es gibt da was zu entdecken“, und auf der Eröffnungspressekonferenz über die finanzielle Kontinuität der Stadttheaternische sinnieren: „Wie kann man da so zum Beispiel mich finanzieren“, oder die in Köln alte Leute „spannend“ finden. Die Diskussion, auf der das Freie Werkstatttheater Köln seinen Altentheater-Modellversuch vorstellt, heißt deshalb auch „Spiel und Theater mit alten Menschen“ und nicht etwa „Alte Menschen spielen Theater“. Und weil genau geklärt werden muß, wie man die Alten im Kölner Vorort zur befreiten African-Dance-Lockerungsübung im Workshop kriegt, reden und reden die Pädagogen über sich selbst. Wie man seine Fort- und Weiterbildung beantragt, wieviele Altenarbeit-Azubis wieviele Stunden pro Woche sich treffen zu welchem Tun, und wie schändlich die Kulturpolitik dies als reine Sozialarbeit verkennt. Und die Alten hören zu, als seien sie selbst vom Arbeitsamt. Nur Herbert von der Mimika Theresia sagt, an die gleichaltrigen Kollegen gerichtet: „Laßt euch nicht immer wie kleine Kinder behandeln. Was die Organisation betrifft, muß man dieses Betreuende akzeptieren. Die Pädagogen können auch dafür sorgen, daß wir uns der Themen annehmen, die von allgemeinem Interesse sind. Nur das Ich-Bezogene ist nicht immer richtig. Es muß aber gar nicht immer das organisierte Theater sein.“

Auch noch ausgelacht

Zehn Jahre bestehen die ältesten Gruppen - Zeit für die Emanzipation von der Beschäftigungstherapie zu einem eigenen Stil? Die Entwicklung der Gruppen verlief bisher - je nach Entstehung und Arbeitsweise - sehr unterschiedlich. Alle gehen von improvisierten eigenen Erfahrungen aus, der Grad und die Art der professionellen Aufbereitung variieren jedoch. Das Theater der Erfahrungen, gegründet von ausnahmslos jungen Sozial- und Theaterpädagoginnen, probt seit neuestem die Zusammenarbeit mit AutorInnen auf der Basis improvisierter Charakterstudien, um über den therapeutischen Effekt von Selbstbeschreibungen hinaus (dem auch Jungschauspieler erliegen) die individuellen Erfahrungen als Themen von allgemeinem Interesse vorzuführen.

Das Nürnberger Seniorentheater hat sich dagegen auch die technischen Produktionsbereiche des professionellen Theaters angeeignet: Teile der Gruppe sind an Bühnenbild, Kostümen, Maske und Beleuchtung beteiligt. Die Vorzüge, die Mittel des Stadttheaters in Anspruch nehmen zu können, schlagen sich allerdings auch in der Aufführung nieder. In ihrem Beitrag zum vierzigjährigen bundesdeutschen Gedenkdrama „Jubel-äh-um-40“ schien die Eigenwilligkeit der Persönlichkeiten auf der Bühne und ihrer Geschichten von Regie- und Dramaturgiekonventionalitäten übertüncht - immer da, wo mitten im breitesten Fränkisch akademische hochdeutsche Brocken auftauchten oder unechter Naturalismus baden ging: Nürnberger können eben kein Berlinerisch. Müssen sie auch nicht.

Ganz anders bei der Beißzange. Wenn die Schwäbin berlinert, dann so, wie eine Schwäbin glaubt, daß sie berlinern kann. Die Stuttgarter haben keinen Chef und sind „für'n Hinterhof konstruiert“. „Wenn einer eine Szene einfällt“, vertraut mir eine der alten Beißzangen an, „dann muß sie die gleich vor der Gruppe vorspielen. Das ist manchmal ganz schön hart, wenn man dann ganz alleine da steht und womöglich auch noch ausgelacht wird.“ Bei keiner der Gruppen, die ich gesehen habe, ist neben dem komödiantischen Talent gleichzeitig der Mut zur Selbstironie so ausgeprägt, aber auch ein beiläufiger Sarkasmus über die Segnungen der staatlichen Wohlfahrt und die Demut der EmpfängerInnen: „Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Ergebenheitsgymnastik!“

Waschmaschinenprotest

Die Hamburger Herbstzeitlosen suchen seit über einem Jahr „händeringend“ einen männlichen Mitspieler. „Unserer wird im März 80 Jahre, den hegen wir und pflegen wir.“ Warum spielen, auch wenn man die höhere Sterblichkeit der Männer einberechnet, sowenige von ihnen Theater? „Mein Mann sagt, er kann die Texte nicht mehr lernen.“ Und eine andere vermutet, daß Männer sich nicht gern auf ein Feld begeben, wo sie sich nicht sicher fühlen. Dafür emanzipieren sich die Frauen auf der Bühne, mit allen notwendigen, aber schmerzhaften Geburtswehen. Mit der Niederkunft der Bundesrepublik zugleich philosophiert das Seniorentheater in seinem Stück „Jubel-äh-um-40“ darüber, daß „des a ganz valogene Zeit wor. Alles Sexuelle war tabu.“ Nach den „Margarinetorten der Flichtlinge“, Schieber, Schlepper, Mauerbau wird in ausufernden Problemszenen über Doppelmoral, Frigidität und lebenslanges Ehejoch - aus dem Blickwinkel der Frauen - mono- und dialogisiert. Ein Mann aus der Truppe: „Da waren die Frauen einfach stärker. Die haben sich durchgesetzt. Wir haben irgendwann gesagt, wenn wir nicht unsere eigene Szene kriegen, hören wir auf.“ Die eigene Szene ist eine kleine Satire auf die Technikbegeisterung der 50er. Drei Männer vor dem achten Weltwunder Waschmaschine frönen der Reinlichkeitsobsession, eine Szene, die mehr über die Sexualkultur der Wiederaufbaumenschen aussagt als alle Geschlechterkriege drum herum.

Übrigens habe ich den gutgepflegten achtzigjährigen Hahn im Korb der Herbstzeitlosen einen Tag später kennengelernt. Konflikte zwischen den Geschlechtern gebe es in seiner Gruppe nicht. Wohl aber Schichten aufgrund einiger sehr vornehmer Damen.

Folg auf Socken

Einige Gruppen versuchten, Szenen, die aus improvisierten Erinnerungen entstanden, in einen großen zeitgeschichtlichen Rahmen einzupassen: Kaiserzeit, Nationalsozialismus, Aufbaujahre, Wünsch-dir-was. Während der Rahmen schief und die Behandlung fernsehgerecht daherkam, blieben einzelne Szenen hängen. Die Über-80jährige tanzte mit Hingabe das Frauenbild von damals: „Fassen Sie mich bitte recht behutsam an, denn ich bin gemacht aus Meißner Porzellan...“ Und die Dame mit dem Bubischnitt legte einen perfekten Charlston aufs Aulenparkett, der einen Begriff von Jugendlichkeit vermittelt, der den der glatten zigarettenrauchenden Nullinger auf den Reklametafeln lässig ins Abseits stellt. Die sexuelle und sonstige Befreiung der Alten muß deshalb weniger auf der Bühne als in den Köpfen mental-vergreister dreißigjähriger Yuppies stattfinden. Hilfestellung geben ihnen die Alten genug. Mimika Theresia gewann nicht nur faden Poesiesprüchen neue Aspekte ab, „Wenn dich die bösen Buben locken / zieh die Schuh - aus, folg auf Socken“, sondern kolportierte im breitesten Kölsch Erinnerungen an den ersten Kuß, von der dramatischen Prä-Entjungferung bis zum Überraschungscoup mit Wiederholungswert („irekt uff de Schnüss geknallt“). Wenn's hier nur ein Aspekt am Rande war, in der „Letzten Probe“ der Herzschrittmacher ist es ein Leitmotiv. Die Schauspielerin Wilma Abendstern kann es nicht lassen, sich auch noch im Altersheim die Finger nach ihrem Geliebten wundzuwählen. Und wenn sie in einer Alten -Laientheatergruppe mitspielt, dann hauptsächlich aus Liebeskummer.

Dorothee Hackenberg