: Ein Dorf im Streik gegen Atomenergie
Nach dem spanischen AKW-Unfall vor elf Tagen ist die Bevölkerung der Nachbargemeinde auf den Barrikaden / „Anti-Atom-Dorf“ proklamiert / Schließung des maroden Reaktors gefordert / Die Gemeinde im tiefen Süden fühlt sich von allen Behörden verlassen ■ Aus L'Ametlla de Mar N. Marten
Ein klarer heißer Spätsommermontag. Auf der A17, der Autobahn, die von Barcelona ihre Teerspur die Küste entlang bis in den tiefen Süden zieht, ist nur wenig Verkehr. Kurz hinter Tarragona, der Petrochemieküche Spaniens, heben sich dunkelgrau eine Betonkuppel und ein ebenso großer Klotz vom bewegten Blau des Mittelmeers ab: die Atommeiler Vandellos 1 und 2. Wie ein halbfertiges Spinnennetz ziehen Kaskaden von überdimensionalen Hochspannungsmasten ihre Bahn in die zerklüftete Felslandschaft.
Vor elf Tagen wurden durch Kurzschlüsse und Brände zwei der vier Turbinen des 1974 errichteten Meilers Vandellos 1 vollends zerstört. Über Stunden hatten Techniker und Feuerwehr einen Super-GAU vor Augen.
Knapp vier Kilometer weiter führt ein holpriges Sträßchen in einen schmucklosen Fischerort. Der auswärtige Besucher wird mit dem Schild „L'Ametlla de Mar - Pueblo antinuclear“ („Anti-Atom-Dorf“) begrüßt. Die Fenster und Balkone der niedrigen Häuser sind zugehängt mit weißen Bettlaken, in deren Mitte ein schwarzer Knoten. „Ein Zeichen für Angst und Trauer“, wie Ramon Margalef, Sprecher des erst vor wenigen Tagen gegründeten „Comite antinuclear“ erklärt.
Am Hafen liegen die Boote und kleinen Trawler, geschmückt mit Transparenten mit Parolen wie „Wir wollen leben“ und „Atom weg“. Die Bars sind geschlossen, die Geschäfte haben ihre Gatter und Rolläden ebenso heruntergelassen wie die Schule. Das 4.300 Einwohner zählende Städtchen scheint ausgestorben, als wäre der GAU längst Wirklichkeit. „Huelga general“ - Generalstreik. Doch keine Gewerkschaft hat ihn ausgerufen: Besorgte, verängstigte Bewohner wollen ein Zeichen setzen. Pere Margalef, Bürgermeister und Mitglied der rechtskonservativen Regierungspartei CIU, stellte dem Komitee das Rathaus zu Verfügung und rief „kraft seines Amtes“ zum Streik auf.
Mittags versammeln sich an der Hafenmole Hunderte von Frauen. Schlag zwölf Uhr beginnen sie mit Töpfen und Bechern zu schlagen. Die Fenster öffnen sich, schwarzverhüllte Alte klopfen mit. Jugendliche lassen die frisierten Motoren ihrer Mofas aufheulen. Stumm wird dieser Lärm eine halbe Stunde zelebriert. Ein gemeinsamer Ruf: „Wir wollen kein Geld, wir wollen leben“, löst die beeindruckende Aktion auf. Hatten doch die Betreiber in den vergangenen Jahren immer wieder einen beträchtlichen Obulus in den schmalen Gemeindesäckel geschüttet.
Die Stadt ist wieder still, leer und unbelebt wie zuvor. Die Organisatoren treffen sich im Rathaus. Die Verunsicherung und Betroffenheit ist spürbar, kommt in jeder Äußerung mehr zum Ausdruck. „Wir wissen noch immer nicht genau, was geschehen ist. Die Regierung sagt nichts. Der Gouverneur will nichts wissen. Selbst können wir die Radioaktivität nicht messen. Niemand redet mit uns“, sagt eine erregte Frau.
Doch der heutige Tag scheint ein erster wichtiger Schritt. Um fünf Uhr versammelt sich die Einwohnerschaft wieder am Hafen. Der richtige Ort, leben doch 80 Prozent der Familien vom Fischfang. Freunde aus Nachbarorten sind hinzugekommen. Über 5.000 machen sich schweigend auf den Weg. Keine Polizei. Die Alten werden von ihren erwachsenen Kindern gestützt, Babywagen holpern über das Kopfsteinpflaster der schmalen Gassen. Alle laufen mit.
Nach zwei Stunden Zickzack durch und um L'Amettla de Mar versammelt sich die Menge vor dem Rathaus. Ein Lied, vorher in der Schule und den Bars eingeübt, wird intoniert: „Wenn mehr Energie gebraucht wird, hat die Sonne doch genug davon. Warum muß unser Leben durch AKWs gefährdet werden. Wir wollen nichts als Frieden. Wir wollen nur leben.“
Es ist inzwischen dunkel geworden. Jeder entzündet eine Kerze. Immer wieder skandieren sie ihre Angst, ihre Ohnmacht. Die Wände der maroden Gemäuer sind ihre einzigen Zuhörer.
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