: OSTLER LERNEN KAUFEN
■ Verantwortungsbewußte-Einkaufs-Beratung e.V.
Jede Geldquantität ist eine endliche Größe. Das heißt, sie ist irgendwann einmal alle. Beim einen früher, beim anderen später. Diesen Zustand nennt man dann im allgemeindeutschen Sprachgebrauch pleite. Und vor diesem Zustand der Pleite möchte ich Sie bewahren helfen.“
Lutz Ehrlich wippt seinen letzten, beinahe korrekten Satz genüßlich zwischen Fußballen und Ferse nach. Freundlich schaut er auf die 30 Übersiedler aus der DDR, die die Essen tials seines Vortrags aufmerksam notieren. Thema der heutigen Lektion: Kaufen - wie und was und warum?
„Der quantitative Aspekt des Kaufens reguliert sich also quasi von selbst durch die dem Einzelnen zur Verfügung stehende Geldmenge. Schwieriger wird es, wenn wir den Akt des Kaufens unter seinem qualitativen Gesichtspunkt betrachten. In der freien, sozialen Marktwirtschaft kauft man nicht irgend etwas, weil es das gerade gibt. Nein, hier gibt es fast alles zu kaufen, so daß man von einer Freiheit der Wahl oder gar freien Wahlen sprechen kann. Freie Wahlen wiederum sind nur dann wirklich frei, wenn sich der Konsument - und wir alle sind Konsumenten, ob wir wollen oder nicht - bewußt entscheidet. Um Ihnen einen ungefähren Begriff vom Akt des bewußten Kaufens zu geben, sage ich jetzt nur einmal, wie der ideale Konsument kauft: er kauft preisgünstig, qualitätsbewußt, umweltbewußt, gesundheitsbewußt, energiebewußt, verpackungsbewußt, nationalbewußt, recyclingbewußt und selbstbewußt.“
Bei soviel Bewußtheit kommen die Kugelschreiber der Auszubildenden kaum hinterher. Einige haben schon resigniert das Schreibwerkzeug beiseite gelegt. Sie hatten sich das Kaufen jenseits der Übersichtlichkeit des Mangels doch wohl etwas einfacher vorgestellt. Zusammen mit 240 anderen Teilnehmern nehmen sie an einem Integrationsseminar der „Verantwortungsbewußten-Einkaufs-Beratung e.V.“ teil. Finanzieller Träger ist der Verband der Einzelhändler und das Sozialamt Spandau. Wir sitzen in einem Raum des Aus- und Übersiedlerlagers in der Streitstraße.
Lutz Ehrlich ist inzwischen ins Detail gestiegen, indem er die Frage aufwirft: „Ist ein in Butter gebackener Pfannkuchen mit Pflaumenmus- oder gemischter Marmeladenfüllung für 0,99 DM preiswert oder nicht?“ Die Beantwortung dieser Frage erfolgt mangels Preisvergleichsmöglichkeit mit der Gegenfrage: „Warum wollen Sie denn überhaupt einen in Butter gebackenen Pfannkuchen käuflich erwerben, wo doch eigentlich nur Milch, Butter, Toastbrot und Joghurt auf Ihrem vorher angefertigten Einkaufszettel stehen? Hatten Sie vielleicht nichts gegessen, bevor sich Ihnen die Glastüren des Supermarktes automatisch öffneten? Eine solche Unterlassung begünstigt die sogenannten Affektkäufe.“
Es folgt die Warnung vor Haustieren, der Unterschied zwischen Handelsklasse A und Handelsklasse II, die Rücktrittsmöglichkeit bei Abzahlungskäufen binnen Ein-Wochen -Frist, das Verfallsdatum der Lebensmittel, die Pflegeanleitung bezüglich Textilien, die Vor- und Nachteile der Tiefkühlkost, der blaue Umweltengel, das Versicherungsrisiko, das phosphatfreie Waschmittel, der Mengenrabatt.
„Apropros Mengenrabatt“, tönt Lutz Ehrlich immer noch freundlich frisch, „nach so viel Theorie des Kaufens, gehen wir jetzt in medias res: in einen Großmarkt. Unter dem Motto: Wo all die guten Dinge herkommen.“ Seine Zuhörer klatschen ihm Beifall und schlüpfen in ihre Jeansjacken oder Turnzeugoberteile der Marke Adidas. Erhobenen Hauptes geht es vorbei an einer Gruppe von Polen und Tamilen, die immer noch bewußtlos einkaufen müssen - wenn sie überhaupt können. Draußen besteigt die Gruppe einen Linienbus der BVG zum Nulltarif.
„Die grundlegende Idee war, den DDR-Übersiedlern bei der Bewältigung dieses Überangebots an Waren behilflich zu sein“, erklärt mir Lutz Ehrlich auf der Fahrt zum Berolina/Metro-Großmarkt. Das stieß auch beim Sozialamt auf Interesse, weil sie hofften, durch eine Verbraucherschulung in fernerer Zeit nicht gar so stark um Unterstützung angegangen zu werden. Ferner war der Verband der Berliner Einzelhändler der Meinung, etwas für die Landsleute von drüben tun zu müssen. Schließlich hat eine Vielzahl der Übersiedler in ihrer alten Heimat selbständig einen kleinen Laden geführt. Nette, strebsame Leute, die sich hier was Neues aufbauen wollen. Und denen soll erst einmal die Existenzgründung aus dem Konsumentenblick heraus vermittelt werden. Und obendrein sind die Leute durch die Schulung auch beschäftigt. Das wird nämlich ein Tagesausflug.“
Auf dem Parkplatz der Berolina erregt die Fußgängergruppe, als sie aufgeregt zum Eingang strebt, einiges Aufsehen. Diejenigen, die es geschafft haben, die frei unternehmenden Lottoladenbesitzer, Kneipiers, Bäcker, StrumpfwarengeschäftsinhaberInnen, dieses ganze abgeschaffte untere Mittelstandselend mit dem gebrochen stolzen Selbständigenblick, welches ökonomisch zu sehr an die Wand gedrückt ist, um sich alle Waren liefern zu lassen - das fährt natürlich mit dem eigenen Wagen vor, auf das der Kofferraum voll werde.
Drinnen bekommen die Ex-DDRler den gleichen glasigen Blick, wie die Angestammten. Mit dem Unterschied, daß letztere wissen, wohin sie mit ihren riesigen Einkaufskarren zu streben haben, während erstere ziellos durch die zehn Meter hohen Warengänge torkeln würden - wäre da nicht der hilfsbereite Herr Ehrlich. Der weist auf die 150er Palette Pfannkuchen zum Preis von 87 Pfennige pro Stück hin, erklärt Gewinnspannen und Frische und mahnt immer wieder, den Gabelstaplern nicht im Weg zu stehen. Und „kaufen können Sie hier auch nichts ohne Kundenausweis.“
Zum Entsetzen der Schulungsteilnehmer sind im Gang „Wasch und Spülmittel“ die Schlitzer aktiv geworden: Aus den Regalen rieselt es Industriesalz, WC-Reiniger und Waschpulver. Entweder unzufriedene Angestellte oder intakte Dauerkunden haben das Linol-Messer an die Großpackungen angelegt. Dieser malerische Akt destruktiver Verschwendung beschäftigt die Unternehmer in spe während der ganzen Fahrt bis Zehlendorf. „Warum machen die Menschen bloß so etwas?“ Bei Reichelt in Zehlendorf Mitte beginnt nun endlich der authentische Konsum-Hindernislauf. Herr Ehrlich dröhnt: „Jetzt kauft jeder, was er bewußt kaufen möchte. Hinterher machen wir eine Manöverkritik, bei der mir jeder erklärt, warum er sich bewußt so oder so entschieden hat.“
Den ersten Tumult gibt es bei der Verteilung von Einkaufswagen. Gleich hinter dem Eingang müssen diese auf ein Förderband geschoben werden, das sie in den Keller transportiert. Aufgrund des unsachgemäßen Schwungs kommt das Förderband mehrmals zum Stehen. Eine Menschentraube quillt bereits aus dem Eingang, so daß Herr Ehrlich dem Geschäftsführer die Aktion erklären muß.
Ist der leere Wagen auf dem Förderband, fährt der Kunde mit der Rolltreppe nebenher. Da die Rolltreppe schneller fährt als das Band, entsteht im Tiefgeschoß ein Streit um die Besitzverhältnisse an leeren Einkaufswagen. Sind diese Zwistigkeiten ausgeräumt, wird der Warenkorb mit repräsentativer Bewußtheit gefüllt. Die Stimmung im Erdgeschoß erreicht vor dem Aufwärtsförderband ihren aggressiven Höhepunkt: eine ungeübte Hand gab ihrem Wagen soviel Schwung, daß zwei Weinflaschen zerbrachen und ein Joghurtbecher platzte.
Nachdem die Rechnungsbeträge der Verkäuferin möglichst passend ausgehändigt werden, entsteht Unmut über die nicht funktionierende Wertmarkenausgabe, die eigentlich das korrekte Plazieren des leeren Einkaufswagens hinter einer Schranke honorieren soll. Es ist bereits der Satz: „Das ist doch alles Betrug!“ zu hören. Endlich vor der Tür, frage ich eine ältere Seminarteilnehmerin, warum sie denn nichts gekauft habe.
„Ach wissen Sie, ich habe noch. Und außerdem hat mir meine Schwester aus der DDR gerade ein Paket mit Lebensmitteln geschickt.“ Die in Aussicht gestellte „Manöverkritik“ erspare ich mir.
O.W. Lieb
Die Seminare des Vereins „Verantwortungsbewußte-Einkaufs -Beratung e.V.“ sind bis auf weiteres ausgebucht. Ratsuchende Neu-BürgerInnen können sich an jedem Mittwoch zwischen 14 und 15 Uhr an die „Verbraucherzentrale“, 1-30, Bayreuther Straße 40, wenden (211 03 90).
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