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Über den Verzicht auf Nicht-Existentes

■ Kongreß der DDR-Philosophen fortgesetzt / Dogmatiker haben Schwierigkeiten mit neuer „Lernfähigkeit“ Nachdenken über Ablegen des Führungsanspruchs der Partei / Kritik am „administrativen Sozialismus“

Berlin (taz) - „Ich bekenne mich dazu, den Sinn meines philosophischen Engagements darin gesehen zu haben, Politik zu realisieren, durchzusetzen, weltanschaulich zu begründen, ja zu rechtfertigen“, so Erich Hahn im ersten Hauptreferat auf dem VII. Kongreß der DDR-Philosophen. Die Welt und damit auch die Politik zu verändern, eine Aufgabe, die Marx noch den Philosophen gestellt hatte, fehlt in dieser Enumeration zu Recht. Da genau diese Aufgabe jedoch im Moment ansteht, müssen sich die DDR-Philosophen umstellen. Hahns Beitrag war, wenn man der Berichterstattung des gestrigen 'Neuen Deutschland‘ Glauben schenken kann, eher bescheiden. Zwar forderte er die „kritische Aufdeckung von Widersprüchen zwischen Ideal und Wirklichkeit“, um sich dann aber doch in den Dienst einer höchst unvollkommenen Realität zu stellen. So erklärte er es zum „Anachronismus“, auf die „führende Rolle der Partei“, die „Arbeiter- und Bauern-Macht“ oder „die Planung der Wirtschaft verzichten zu wollen“ - ohne der philosophisch doch zweifellos interessanten Frage nachzuspüren, ob ein „Verzicht“ auf etwas Nicht-Existentes überhaupt möglich ist.

Dichter an der DDR-Realität angesiedelt waren die Ausführungen von Lothar Striebing. Er beschrieb die Beunruhigung vieler Werktätiger wegen der Einführung neuer Technologien als „Symptome von Reaktionen auf Interessenmißachtung“. „Nur durch die Demokratisierung des politischen Systems könne die Entfremdung der politischen Strukturen von den Menschen überwunden werden“, so der Bericht im 'ND‘.

Die deutlichsten Worte zur gegenwärtigen Situation scheint Dieter Segert, Philosoph von der Humboldt-Universität, gefunden zu haben. In seinem Referat beschrieb er das in der DDR und anderen Ländern herrschende System als „administrativen Sozialismus“. Dessen Merkmale seien „eine umfassende Verstaatlichung des politischen Lebens, deutliche Grenzen für die Lernfähigkeit der Handelnden auf allen Hierarchieebenen des politischen Systems, eine permanente Unterforderung von Individuen“. Durch die „Verbindung von Demokratie und Sozialismus“ müsse der in den bürgerlichen Gesellschaften erreichte „politische Fortschritt“ übertroffen werden. Mit „wirklicher Volksmacht“, „Wahlentscheidungen“ und „Öffentlichkeit“ charakterisierte er die von ihm geforderten „zweiten Entwicklungsphase unserer Gesellschaft“.

ws

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