„Vollkommen absurd“

Gespräch mit dem schwulen Anwalt und Ex-MdA Stefan Reiß zum nächsten Prozeß im Fall Baldur Ubbelohde  ■ I N T E R V I E W

taz:Wie bewerten Sie die Anklage wegen Beleidigung und übler Nachrede durch die politischen Staatsanwaltschaft?

Reiß:Wenn man denn überhaupt von einem Tatbestand ausgeht, ist die Annahme eines besonderen Interesses der Öffentlichkeit nicht ganz widersinnig. Denn es handelte sich ja um Äußerungen, die gegen einen Politiker in seinem Amt, in seiner Eigenschaft als Bezirksbürgermeister gemacht wurden. Dieser juristische Punkt ist sicherlich nicht das, was ich an diesem Fall merkwürdig finde.

Aber merkwürdiger ist schon, daß Schwulsein eine Beleidigung sein soll.

Egal, ob Zivil- oder Strafverfahren: Ich finde es vollkommen absurd, daß es überhaupt tatbestandmäßig sein kann, wenn man, wie in diesem Fall, jemand vorwirft, er sei heterosexuell, und dabei unterschwellig deutlich macht, daß man damit auch auf die Unterstellung der Homosexualität bezugnimmt. Das kann man doch nur noch als satirische Äußerung bezeichnen, da wird Satire mit einer ganz dezent verbrämten Form von Kritik abgesondert. Daß man da nun auf die Idee zu kommen kann, dies könnte einen beleidigenden Straftatbestand erfüllen, macht eine sehr gestörte Wahrnehmung von allen Äußerungen deutlich, die etwas mit Sexualität zu tun haben. Das ist die Sache, der eigentliche Skandal, der eigentliche Unfug ist. Auch schon an dem Zivilverfahren, das vorher gelaufen ist.

Eine Satire, die sich gegen Diffamierungen wendet, soll selbst Diffamierung sein.

Wenn das Beleidigung sein soll, dann müßten ja die Homosexuellen demnächst das Recht haben, wegen Beleidigung alle Heterosexuellen verknackt zu sehen, die sie einmal schief angucken. Das ist ja auf einer ähnlichen Ebene der Empfindsamkeit, das, was man dem Herrn Ubbelohde und jedem anderen heterosexuellen Menschen oder angeblich heterosexuellen Menschen zubilligt. Mit klarem, gesundem Menschenverstand dürfte sich bei diesem unstreitigen Tatbestand keine Staatsanwaltschaft dazu hinreißenlassen, überhaupt Ermittlungen anzustellen. Das finde ich, ist der Skandal, den ich auch ungeheuer finde. Hier soll ein weiterer Nebenkriegsschauplatz eröffnet werden.

kotte