: Welt anschauen
Das Reisegesetz der DDR ■ K O M M E N T A R
Weltanschauung, darauf wies in der vergangenen Woche ein DDR -Schriftsteller hin, geht etymologisch auf „Welt anschauen“ zurück. Im 20. Jahrhundert bedeutet das für die BürgerInnen reicherer Länder auch: herumzureisen. Was das neue Reisegesetz für die Bürger der DDR bedeutet, kann man nur ermessen, wenn man sich vor Augen hält, was die Bürger des angeblich „zehntreichsten Industrielandes“ sich bisher tatsächlich von der Welt anschauen können. Für die meisten von ihnen beschränken sich ihre Reiseerfahrungen auf die Tschechoslowakei, Polen und vielleicht noch die Sowjetunion. Selbst die Bundesrepublik Deutschland hat nur eine Minderheit besucht. Ungarn war das mediterranste Land, das sie je selbst gesehen haben. Ihre Mobilität war und ist geringer als die wohlhabender städtischer Bürger des 18. oder 19. Jahrhunderts. Italien kennen sie aus Gemäldegalerien, Paris aus Fernsehkrimis und Griechenland von Urlaubspostkarten der westlichen Verwandtschaft.
Seit fast dreißig Jahren hat die Staats- und Parteiführung der DDR die ihr unterworfenen Bürger in provinzieller Enge gehalten - unterlaufen und kompensiert nur durch die „Westmedien. Das neue Gesetz wird in seiner gegenwärtigen Fassung den Erwartungen auf Welterfahrung wohl nicht genügen. Nicht nur um einzelne restriktive Bestimmungen geht es dabei, sondern darum, daß dieses Gesetz noch von dem obrigkeitsstaatlichen Geist des 19. Jahrhunderts durchdrungen ist. Auch wenn eine „Versagung“ nur in Ausnahmefällen geschehen soll, die dahinter stehende Philosophie ist paternalistisch: Der Bürger ist „Antragsteller“, über sein Begehren wird von anderen entschieden.
An den Gedanken, daß es Bürgerrechte gibt, die jeder Mensch selbstverständlich in Anspruch nehmen kann, hat sich die SED -Spitze noch nicht gewöhnt. Aber die Öffnung der DDR zum 20. Jahrhundert inklusive des Bürgerrechts auf Freizügigkeit, auf Mobilität, ist nicht mehr aufzuhalten. Wie auch an anderen Punkten haben die Bürger da schon das vorgegriffen das ist auch eine Botschaft der Trabi-Karawane. Der Entwurf zu einem Reisegesetz ist ein Schritt dahin, aus dem Abhauen Reisen zu machen. Nach den in den nächsten Wochen bevorstehenden öffentlichen Debatten wird er wohl noch etwas weiter ausfallen, auch wenn die SED momentan noch meint, nicht mehr zugestehen zu können.
Walter Süß
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