: Deutsche Fragen
Die Nachkriegskonstellationen sind nicht ewig ■ G A S T K O M M E N T A R
Das Zurückweichen des neostalinistischen Regimes vor der erregten Bürgerschaft in Ostdeutschland setzt die deutsche Frage - wieder einmal - auf die historische Tagesordnung. Um es gleich zu sagen, dort war sie eigentlich immer, aber zynische Politiker und ihre befangenen „Experten“ (deutsche wie nichtdeutsche) zogen es vor, sie unter den Tisch fallen zu lassen. Die verschiedensten Kniffe wurden benutzt, um die Nachkriegsregelungen als ewig und unerschütterlich darzustellen. 1952 lehnte die Regierung Adenauer das Stalinsche Angebot ab, im Austausch mit der Neutralität Deutschlands die Wiedervereinigung herbeizuführen - während natürlich gleichzeitig wacker weiter der unwandelbare Wunsch nach Wiedervereinigung proklamiert wurde. Amerikanische und auch andere alliierte Politiker fordern in einem immer wiederkehrenden Ritual den Fall der Berliner Mauer allerdings in der sicheren Überzeugung, daß sie stehen bleibt. Das erspart es ihnen nämlich auch, auf die 495.000 Mann starke westdeutsche Armee und die 1,2 Millionen Reservisten zu verzichten, ebenso wie darauf, die Nato-Pläne aufzugeben, die beiden deutschen Staaten im Falle eines Falles zum nuklearen Schlachtfeld zu machen.
Heute, wo die Frage wieder auf dem Tisch ist, sind die meisten Stellungnahmen durch Angst, Orientierungslosigkeit und Ignoranz gekennzeichnet. Viele Westeuropäer fürchten die ökonomische Macht eines wiedervereinten Deutschlands. Speziell die Franzosen scheinen unfähig zu sein, die Jahreszahlen 1914 und 1939 hinter sich zu lassen. Erinnerungen an die Verheerungen der Nazis, reaktiviert durch die Aktionen lautstarker Revanchisten auf der westdeutschen Rechten, sind es auch, die die Tschechoslowaken aufschrecken lassen und vor allem die Polen. Im Vergleich dazu reagiert die sowjetische Elite relativ gelassen auf die deutschen Zukunftsaussichten.
Es ist durchaus nützlich, sich in Erinnerung zu rufen, daß Westdeutschland (selbst wenn man denn mal den Osten dazurechnen würde) keine Supermacht, sondern nur ein Gebilde von mittlerer Größe sein würde, dessen Wohlstand ganz klar von der wirtschaftlichen Verflechtung mit dem restlichen Europa abhängt. Neu in der deutschen Geschichte ist, daß eine Mehrheit der Bevölkerung in Westdeutschland (und jetzt offensichtlich auch in Ostdeutschland) die parlamentarische Demokratie und Pluralismus will. Und weiter: Eine Mehrheit in beiden Staaten ist entschieden unmilitaristisch. Die westdeutschen Einberufungsstellen werden überflutet von Anträgen auf zivilen Ersatzdienst, und die ostdeutsche Opposition hat den Antimilitarismus zu einem Hauptthema erklärt. Fantasien über ein aggressives Deutschland sind genau das: Fantasien.
Den Deutschen kann nicht das Recht auf Selbstbestimmung verweigert werden, das wir für andere so lauthals fordern. Aber so sehr wir das auch betonen, die Mehrheit der Deutschen in Ost und West ist in bezug auf die Wünschbarkeit oder Notwendigkeit einer sofortigen Wiedervereinigung hochskeptisch. Die Opposition in Ostdeutschland will die Demokratisierung des Staatssozialismus. Die Westdeutschen haben gar keine Lust darauf, ihren Wohlfahrtsstaat durch eine Welle von Neuankömmlingen aus der DDR fortschwemmen zu lassen. Nicht ohne Grund ist die westdeutsche politische Elite in enger Zusammenarbeit mit der Sowjetunion dabei, Ostdeutschland zu Maßnahmen zu drängen, die diesen Staat stabilisieren könnten. Es war immerhin der westdeutsche Präsident Richard von Weizsäcker, der gesagt hat, die deutsche Nation bedeute nicht zwangsläufig einen deutschen Staat. Schließlich hat die deutsche Nation es für einen Großteil ihrer Geschichte geschafft, in verschiedenen Staaten zu leben.
Der westdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher hat mehr Weitblick: In Weiterverfolgung von Ideen, die schon von Willy Brandt und den Sozialdemokraten entwickelt wurden und heute auch bei den Christdemokraten akzeptiert werden, meint er, daß das deutsche Problem im Rahmen einer Europäisierung Europas gelöst werden muß. Das heißt, eine Lösung ist möglich, wenn die beiden Hälften Europas ihre jeweiligen Supermächte abschütteln und gleichzeitig beides werden: sowohl autonomer wie auch politisch, kulturell und ökonomisch verbundener.
Die Westdeutschen und auch die Franzosen haben die Federführung beim Schnüren eines großen europäischen Hilfspakets für Ungarn und Polen übernommen. Kohl hat unter der Bedingung, daß ernsthafte Reformen eingeleitet werden, für Ostdeutschland große Summen an Wirtschaftshilfe ausgelobt. Gleichzeitig mit diesen Schritten könnten Maßnahmen der Rüstungskontrolle und der drastischen Reduzierung von Truppen und Atomwaffen der Supermächte auf deutschem Boden vorgenommen werden. Ein möglicher totaler Rückzug der Supermächte aus Deutschland könnte gemeinsam mit den Deutschen und anderen Europäern in Ost und West ausgehandelt werden. Die „utopischen“ Ziele der Friedensbewegung sind - offensichtlich zunehmend - Material für Realpolitiker.
Die Macher der US-Außenpolitik hinken, wie üblich, quängelnd hinter den Ereignissen her. Sie würden gut daran tun zu erkennen, daß die Deutschen (und auch andere Europäer) die verminderte Durchsetzungfähigkeit der Amerikaner erkannt haben und daß ihre Geduld erschöpft ist, sich von Washington weiterhin ideologische Ladenhüter andrehen zu lassen. Rüffel an die Deutschen wegen ihres „Nationalismus“ von Leuten, die sich offen der amerikanischen Weltmission verschrieben haben, sind lächerlich. Die amerikanische Öffentlichkeit würde davon profitieren, wenn sie sich dämonischer Bilder von einer Wiedergeburt des Nationalsozialismus entledigen würde. Die Deutschen könnten am Ende eher den Schweden gleichen.
Norman Birnbaum, Publizist in Washington
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen