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„Da ist keine Perspektive da, in der DDR“

Uwe und Rita Richter, seit gestern Bundesbürger, glauben nicht an Veränderungen in der DDR / „Die Zügel werden in Zukunft sicherlich wieder schärfer angezogen“ / Keine Hoffnung auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation  ■  Aus Schirnding Bernd Siegler

In der Nacht vom Montag auf Dienstag stauten sich die Trabis und Wartburgs auf eine Länge von zehn Kilometer am deutsch -tchechoslowakischen Grenzübergang Schirnding; stündlich kommen hier etwa 200 DDR-BürgerInnen in die Bundesrepublik. Die Wartezeit beträgt in der Regel mehrere Stunden. Das hatten Uwe Richter (30) und seine Frau Rita (31) aus Oberwiesental noch am Abend im Westfernsehen gesehen. Am nächsten Morgen machen sie sich um 8 Uhr mit ihren beiden Söhnen Oliver (5) und Sören (1) auf den Weg. Schon drei Stunden später kommen sie im oberfränkischen Schirnding an. „Daß es so schnell gehen würde, hätten wir nicht gedacht“, freut sich Uwe Richter.

Während der gelernte Dachdecker seinen blauen Trabi einparkt, wird seine Frau mit den beiden Kindern in das überheizte Rot-Kreuz-Zelt gelotst. Der kleine Sören bekommt die ersten „Segnungen“ des Westens in Form eines „Hipp„ -Gläschens zu spüren. Vor dem Zelt knallen vereinzelt Sektkorken, und die Feuerwehr bringt die zu Fuß über die Grenze Gekommenen ins nächste Auffanglager. Noch an der DDR -Grenze hatte das Ehepaar Richter Bedenken, ob es klappen würde, nur unter Vorlage des Personalausweises in die CSSR einreisen zu können. Doch die DDR-Grenzer seien freundlich gewesen und hätten sie durchgewunken.

An prinzipielle Veränderungen in der DDR glauben Uwe und Rita Richter aber trotzdem nicht. „Ja, auf der Straße tut sich schon was, alle reden und reden“, sagt Rita, die zuletzt in der Buchhaltung eines VEB gearbeitet hat. Es fange doch schon damit an, „daß jetzt der Krenz sagt, er hätte die Wende gebracht“. „Ich kann doch nicht“, fällt Uwe ihr ins Wort, „40 Jahre lang einen harten Kurs fahren und dann drehe ich mich von heute auf morgen um 180 Grad um, das geht doch nicht.“ Auf die Straße, wie Millionen ihrer Landsleute in den letzten Tagen, sind die beiden jedoch nicht gegangen. Warum? Betretenes Achselzucken. Sie sind fest davon überzeugt, daß in der DDR in naher Zukunft wieder die Zügel straffer angezogen und die Grenzen wieder dichtgemacht werden. „Wirtschaftlich können die es sich gar nicht mehr leisten, noch einmal 200.000 weggehen zu lassen“, argumentiert Uwe Richter. Er glaubt auch nicht, daß die SED ihren alleinigen Machtanspruch aufgibt. „Mit leichten Dingen geben die doch nichts aus der Hand, die verlieren doch alles.“ Die Partei habe sich in den letzten 40 Jahren nur Privilegien geschaffen. „Die haben die ganzen Devisen aufgebraucht und haben gelebt wie im Westen.“ Ohne die nötigen Devisen hält seine Frau auch das neue Reisegesetz „schlicht für einen Witz“.

Rita Richter hat immer gehofft, daß es besser werde, „aber in den letzten zwei Jahren ist es mit der Versorgung immer schlechter geworden“. An wirtschaftliche Veränderung in der DDR glauben beide nicht. „Da ist keine Perspektive da, aus eigenen Mitteln geht da gar nichts“, betont der Oberwiesentaler. Da müsse schon der Westen helfen. „Wenn keiner von ihnen da Millionen zuschießt, passiert nichts.“ Daß bundesrepublikanische Unternehmen vielleicht gar Eigeninteressen mit einem Engagement in der DDR verbinden, die DDR zu einem Billiglohnland werden und ein Ausverkauf a la Polen drohen könnte, schwant zwar beiden, aber diese Vorstellung schieben sie schnell weit von sich. „In der großen Politik kennen wir uns nicht aus“, erklären sie, lachen verlegen.

Einen großen Vorsprung vor ihren Aussiedlerkollegen haben Uwe und Rita Richter: Um eine Wohnung brauchen sie sich nicht zu kümmern, das haben Verwandte in Mannheim für sie erledigt. „Mit der Arbeit wird es auch klappen“, sind sie optimistisch. Wohnungsnot und zwei Millionen Arbeitslose in der reichen Bundesrepublik? „Wohnungsnot gibt es bei uns auch, Arbeitslose und Leute, die wie Sozialhilfeempfänger leben, gibt es genug“, wischt Uwe Richter die Schattenseiten des westlichen Wohlstands vom Tisch.

Beide sind sich im klaren, daß sie in ihrer neuen Heimat nicht überall willkommen sein werden. „Die Zeit wird die Wunden heilen“, gibt sich der Thüringer optimistisch. „Wenn bei uns 100.000 ins Land stürmen würden, dann würde der Notstand ausgerufen werden.“ Nachdem sie im Rot-Kreuz-Zelt ihre Kinder versorgt haben, werden sie als nächste Station zur Hauptschule in Marktredwitz fahren. Dort holen sie sich ihr Begrüßungsgeld ab und machen sich dann auf den Weg nach Mannheim. Wenn sie vorher noch von der Telefonzelle bei der Hauptschule aus ihre Tante anrufen wollen, wird ihnen das an die Tür eingeritzte „Aussiedler raus“ wohl kaum entgehen.

Ihre Hoffnungen für die Zukunft setzen beide auf die Wiedervereinigung. „Zehn Mann mehr weg sind ein Tag näher an der Wiedervereinigung“, zitiert Uwe ein DDR-Sprichwort. Ein vereintes Deutschland bedeutet für ihn „Wirtschaftsboom, neue Straßen, die Chance, ein neues Land aufzubauen“. Kein Wunder, daß beim Ehepaar Richter Helmut Kohl die meisten Sympathien genießt. „Wir würden wahrscheinlich CDU wählen, oder vielleicht die Republikaner.“ Aber von denen wissen sie noch zu wenig. „Bei uns“, fügt Rita Richter hinzu, „werden die ja immer nur als Nazis beschimpft.“

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