: Salto Mortale
■ DDR-Medien auf Wendekurs
Schamonis Erfolgssender 100,6 ist out, Radio DDR ist in. Ein Westberliner Taxifahrer, auf den Wellenwechsel angesprochen, erklärt mir voller Überzeugung: „Die sind doch jetzt da drüben viel liberaler als unsere Sender.“ Kaum zu glauben, was sich in wenigen Wochen alles ändern kann. Das DDR -Mediensystem, 40 Jahre lang ein nahezu gleichgeschalteter Apparat, hat sich mit einem Mal zur derzeit spannendsten Informationsquelle gemausert.
Die Aktuelle Kamera, deren endlose Berichte über Planerfüllung und Übertragungen von ZK-Sitzungen das ohnehin schon rare Publikum zu Tode langweilte, wartet nun täglich mit aufsehenerregenden Neuigkeiten auf, die selbst eingeschworene Westfernseher umschalten lassen. Bilder von friedlichen Demonstrationen, drei Stunden Live-Übertragung der größten Kundgebung der Nachkriegszeit auf dem Alexanderplatz, schnell einberaumte Diskussionsrunden - das gab es im DDR-Fernsehen noch nie.
Die gleichen Journalisten, die noch vor einem Monat ganz brav ihre staatstragende Pflichten erfüllten, gehen plötzlich auf kritische Recherche-Tour. So gesehen in einem Bericht am Sonntag auf DDR 1. Brennendes Thema: Die Gründe für den ungebrochenen Ausreisewillen vieler DDR-Bürger. Honneckers Sprachregelung („Wir weinen keinem Republikflüchtling eine Träne nach“) ist einer moderaten Tonart gewichen. In der Sendung vom Sonntag stellt die Interviewerin kritische Fragen nach den Ursachen des Unmuts. Ein junger Mechaniker, der seinen Ausreiseantrag vorerst zurückgezogen hat, kontert auf die Frage, worauf sich seine jetzige Hoffnung auf Veränderung stützt. „Naja, Sie merken doch auch, daß sich etwas verändert hat, oder glauben Sie, Sie hätten vor einem halben Jahr so einen Film machen können?“
Dagegen sah die ZDF-Reportage am Dienstag abend ganz schön blaß aus. DDR-Übersiedler, nach ihren Motiven für die Ausreise und ihren ersten Eindrücken vom Leben im Westen befragt, spulten die schon oft gehörten Standard-Sätze herunter. Obwohl keiner der Interviewten offen zugeben wollte, den Schritt eventuell zu bereuen, klang hinter manchen Antworten bittere Wehmut durch. Dagegen erschienen die vom DDR-Fernsehen befragten Ausreisewilligen ganz selbstbewußt und kritisch.
Erstaunlich schnell und aktuell arbeiten die DDR -Journalisten plötzlich. Es ist fast schon verdächtig, wie reibungslos die DDR-Medien auf den neuen Kurs umgeschwenkt sind. Ist das nun ein Zeichen dafür, daß Journalisten, die sich nur zähneknirschend der strengen Zensur gebeugt hatten und nun endlich mit explosiven Eifer das nachholen, was sie so lange versäumt haben? Oder zeigt sich in der ruckartigen Wende nur wieder erneut die Fähigkeit zur perfekten Anpassung an die Gegebenheiten? Ich bin mit meinem Taxifahrer einer Meinung: Wir hoffen das erste, befürchten klammheimlich jedoch das zweite. Die gesamtdeutsche Geschichte kennt schon zu viele Beispiele von gewissenlosem Anpassertum.
Einer jedenfalls wollte partout nicht umdenken und siehe da, er wurde in Windeseile an die Luft gesetzt: Karl-Eduard von Schnitzler. Statt Schwarzer-Kanal-Demagogie gibt es in Zukunft „Klartext“. Hoffentlich bleibt's dabei.
Ute Thon
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen