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Abschied von einer längst vergangenen Zeit

■ 33 Jahre war er General bei der Staatssicherheit (zuständig für Auslandsspionage), heute plädiert er für Glasnost und Perestroika

Markus Wolf

Nicht ohne zu zögern, nutze ich die Möglichkeit, an dieses Mikrophon zu treten, aus mehreren Gründen: Es war nicht meine Partei, die Sozialistische Einheitspartei, die mit der Macht der Medien zu dieser Demonstration aufgerufen hätte, es war die fast leise Stimme Berliner Künstler, mit der Forderung nach Freiheit des Worts und der Versammlung. Trotz zunehmend mahnender Stimmen in unseren eigenen Reihen, konnten wir nicht verhindern, daß unsere Führung bis zum 7.Oktober, in einer Scheinwelt lebte und selbst dann noch versagte, als die Menschen anfingen, mit den Füßen abzustimmen. Das war bitter, für uns Kommunisten. Der Fackelzug am Abend des 6.Oktober und die Militärparade am Morgen des 7. wirken heute schon wie ein Abschied von einer längst vergangenen Zeit, und doch liegt diese Zeit erst seit vier Wochen zurück. Wir dürfen ihre Rückkehr nie wieder zulassen.

Am 7.Oktober gab uns die Anwesenheit Michail Gorbatschows neuen Mut, und am Abend kam es zu den blutigen Zwischenfällen. Seitdem hat sich unser Volk auf den Straßen und Plätzen die Freiheit des Worts selbst geholt. Aber nun darf sich der Dialog nicht mehr in Worten erschöpfen. Von der in der nächsten Woche angesetzten Tagung des Zentralkomitees werden nun eindeutige und mit Substanz erfüllte Aussagen erwartet, auch ein Bekennen zur Verantwortung und zu den Ursachen des Geschehenen mit entsprechenden personellen Konsequenzen. Um für die eigentliche, noch nicht begonnene Wende und Erneuerung in meiner eigenen Partei eine klare Orientierung zu geben, sollte das Zentralkomitee, entsprechend Artikel 47 des Statuts der Partei, unverzüglich eine Parteikonferenz einberufen.

Hunderttausende Kommunisten, die ehrlich und aktiv gearbeitet haben, erwarten einen klaren Kurs. Viele haben schon lange um Lösungen gekämpft, haben auch weitreichende konzeptionelle Vorschläge für grundlegende Reformen eines erneuerten Sozialismus gemacht. Diese Vorschläge gehören jetzt in den Dialog und an die Öffentlichkeit. Damit wird noch deutlicher werden, daß es in dieser, meiner Partei nicht an engagierten und couragierten Menschen auf allen Arbeitsebenen und -feldern mangelt, nicht an klaren und konzeptionell kompetenten Köpfen fehlt. Nicht durch Pochen auf festgeschriebene Artikel, nur durch Überzeugung und harte, sehr harte Arbeit, kann die ganze Partei ihre Rolle in der neuen Etappe unserer gesellschaftlichen Entwicklung spielen.

Nun zu dem zweiten Punkt meines Zögerns, hier zu sprechen und da erwarte ich noch viel weniger Beifall: Ich habe ein Buch geschrieben, in dem ich mich für offenes Aussprechen der Wahrheit, für Zivilcourage, für ein menschliches Umgehen miteinander, auch mit Andersdenkenden ausspreche. So, nun wird der Beifall gleich aufhören, denn ich kann und will natürlich nicht verschweigen, daß ich davor 33 Jahre General im Ministerium für Staatssicherheit war, und ich bekenne mich zu meiner Verantwortung für diese Tätigkeit bis zu meinem Ausscheiden vor drei Jahren aus diesem Dienst.

Wenn wir diesen Weg der Erneuerung mit Vernunft und Besonnenheit weitergehen wollen, dann muß ich hier mich dagegen wenden, daß viele Mitarbeiter dieses Ministeriums, die ich aus langen Jahren kenne, nun zu Prügelknaben der Nation gemacht werden sollen. Es liegt gerade im Interesse dieser Mitarbeiter, daß jede Anschuldigung, jedes Unrecht, jede Verletzung der Gerichte unparteiisch untersucht, die Verantwortlichkeit festgestellt wird und Betroffenen öffentlich Gerechtigkeit wiederfährt. Das gilt natürlich auch für den 7. und 8.Oktober.

Die Aufgaben diesen Ministeriums entsprachen stets der Politik der Führungen dieses Landes. Wenn jetzt die politische Führung von einer Wende spricht, dann muß dies natürlich auch zu einer Überprüfung der Tätigkeit der Schutz - und Sicherheitsorgane führen und auch die parlamentarische öffentliche Kontrolle dieser, in jedem entwickelten Land vorhandenen Einrichtung wird dabei zu berücksichtigen sein. Neues Denken ist in diesem Bereich genauso gefragt, wie überall, besonders im Umgang mit Andersdenkenden. Verantwortliche dieses Ministeriums sollten sich der Öffentlichkeit stellen, um damit auch den Dunst des Geheimnisvollen zu beseitigen, das bei vielen Menschen Angst verbreitet. Aber die Gegner der Erneuerung, die müssen wir überall dort suchen, wo sich Dünkel, Arroganz, elitäres Denken, Machtanmaßung breitgemacht haben.

Nun zum dritten Grund, weshalb ich mit Zögern an dieses Mikrophon vor einer solchen Massenveranstaltung getreten bin. Dieser liegt in den Erfahrungen der Geschichte. Immer wenn es in sozialistischen Ländern in der Vergangenheit nach dem Krieg einen Kurs- oder Führungswechsel gegeben hat und die Menschen emotionsgeladen mit ihren Forderungen auf die Straßen und Plätze gegangen sind, gab es eine Eskalation, ist Blut gefloßen und gab es Tote, oft viele Tote. Man kann vor der Besonnenheit unserer Menschen, auch der hier auf dem Platz, nur den Hut ziehen. Seit dem 9.Oktober ist kein Blut mehr geflossen, und wir wollen es dabei belassen. Sorgen wir doch alle dafür, daß die Vernunft die Oberhand behält. Nutzen wir gemeinsam die einmalige Chance, Sozialismus mit Demokratie, die das Wort verdient, zu verbinden. Vielleicht können wir damit Michail Gorbatschow und den Menschen in der Sowjetunion etwas vom Mut und der Hoffnung zurückgeben, die sie mit Perestroika und Glasnost in dieses Land gebracht haben.

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