: Ein historischer Tag: DDR öffnet die Mauer Momper: Kommt bitte mit der S-Bahn
■ DDR-Ministerrat überwand die Mauer / Ab sofort nur noch ein Stempel für Grenzwechsel in den Westen nötig / Politbüro-Mitglied Schabowski verkündete gestern sensationelle Entscheidung der DDR-Führung / Neues Reisegesetz kann dahinter nicht mehr zurückfallen
Berlin (taz) - Berlin, Donnerstag, 9.November, 19.07 Uhr: Die Mauer zwischen beiden deutschen Staaten ist theoretisch gefallen.Ab heute steht es jedem DDR-Bürger frei, seine Republik zu jedem Zeitpunkt und mit jedem Ziel zu verlassen. Ab heute darf jeder DDR-Bürger seine Reiseziele und Wohnorte selbst bestimmen.
Als Günter Schabowski gestern vor die versammelte Weltpresse trat, war die Sensation perfekt: „Der DDR -Ministerrat hat heute beschlossen, Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden.“ Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt und nur in besonderen Ausnahmefällen untersagt. Ab heute können die DDR-Bürger alle Grenzübergänge zur BRD und West-Berlin benutzen. Schabowski will darin noch nicht den endgültigen Abriß der Mauer sehen. Doch nach der Verabschiedung eines neuen Reisegesetzes wird die DDR hinter diese Übergangsregelung nicht mehr zurückfallen können.
Berlin ist wieder dabei, Berlin zu werden. Knapp ein halbes Jahr, nachdem der Stacheldraht an der ungarisch -österreichischen Grenze fiel und Tausenden von DDR-Bürgern die Reise in den Westen auf Umwegen ermöglichte, entschlossen sich die Verantwortlichen in der DDR zu einer unkomplizierteren Lösung. Die amtliche Nachrichtenagentur 'adn‘ teilte mit, daß bereits morgen alle Dienststellen für das Paß- und Meldewesen zusätzlich von 9 bis 16 Uhr geöffnet sind. Viele bürokratische Hindernisse fallen künftig weg. Niemand brauche mehr Laufzettel, auf denen Schuldenstand und Straftaten vermerkt waren. Nun kann im Prinzip jeder Bürger einen Reisepaß beantragen. Für die Ausreise in die BRD reicht der Personalausweis, für den die Bürger sich künftig nur noch einen Ausreisestempel besorgen müssen.
In einer ersten Reaktion zeigte sich der Regierende Bürgermeister West-Berlins „sehr froh“ und appellierte an die Berliner, sich ebenfalls zu freuen, „auch wenn wir wissen, daß daraus viele Lasten auf uns zukommen werden“. Walter Momper wußte auch schon , wohin es die meisten DDR -Bürger drängt: „Sie wollen einmal den Kudamm herauf und herunter gehen, wie wir das ja auch tun.“ Ganz im Sinne des ökologischen Stadtumbaus forderte er die zu erwartenden Besucher auf, mit der U- oder S-Bahn nach West-Berlin einzureisen. In dem Schritt der SED zeige sich ein aufrichtiger Wille zur Reform, der nun auch im Westen anerkannt werden muß. Die DDR-Bürger forderte er auf, den Schritt einer Übersiedlung sorgfältig zu überlegen. Auch für den ehemaligen Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen begann gestern „eine neue Zeit“. Er forderte die DDR-Führung dazu auf, nun auch das Brandenburger Tor für Fußgänger zu öffnen.
Zuvor hatte sich die SED-Führung dem massiver werdenden Druck der Parteibasis gebeugt. Das Zentralkomitee berief auf seiner gestrigen Sitzung in Ost-Berlin erstmals seit 1956 eine Parteikonferenz für den 15-. bis 17. Dezember ein, die den künftigen Reformkurs festlegen soll. Daß die Partei sich auch den weitgehenden gesellschaftlichen Forderungen nicht mehr entziehen kann, signalisiert die Ankündigung von Generalsekretär Egon Krenz, es werde in Zukunft auch in der DDR freie Wahlen geben.
Wie labil die personellen Entscheidungen des Zentralkomitees vom Vortag sind, zeigte unterdessen ein pikanter Vorgang in der Provinz. Hans Joachim Böhme, der mit dem schlechtesten Ergebnis in das neue Politbüro gewählt worden war, wurde gestern als SED-Bezirkssekretär von Halle abgewählt. Nach vierstündiger Diskussion fanden sich bei 62 Gegenstimmen nur vier Mitglieder der Bezirksleitung, die den Spitzenfunktionär, der auch das Amt eines ZK-Sekretärs bekleidet, halten wollten. Gleichzeitig wurde in Ost-Berlin die Einberufung der Volkskammer für kommenden Montag beschlossen. Verschiedene Parteien und gesellschaftliche Organisationen hatten in den vergangenen Tagen eine vorzeitige Sitzung gefordert, um die aktuelle Lage zu beraten.
Die Parteikonferenz wird die aktuelle Lage von Staat und Partei diskutieren, den für Mai 1990 angesetzten Parteitag vorbereiten und Veränderungen im Zentralkomitee beschließen. In der Geschichte der DDR gab es bisher drei Parteikonferenzen, die letzte 1956. Bei der gestrigen Generaldebatte sagte Hans Modrow, die Partei habe auf ihrem Parteitag von 1986 „die Chance für einen notwendigen Wandel verpaßt“. In der Partei herrsche Bitternis. Es gehe jetzt darum, die Aktionsfähigkeit mit den Mitgliedern der Grundorganisationen wiederherzustellen. Krenz kündigte in seiner Rede wörtlich „ein neues Wahlgesetz“ an, „das eine freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahl gewährleistet und in jedem Stadium der Wahl die öffentliche Kontrolle garantiert“. Die Volkskammer müsse umgehend ein entsprechendes Gesetz beschließen.
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