: Die entlegenen Orte der Erinnerung
■ Der Schriftsteller Wolfgang Koeppen im Gespräch mit Margit Knapp Cazzola
München, Widenmayerstr., Eckhaus, Türklingel W.Koeppen. Ich verstehe nicht, was mir Wolfgang Koeppen durch die Sprechanlage sagt und gehe zu Fuß die vier Stockwerke hoch. Wolfgang Koeppen begrüßt mich mit den Worten: Ich habe Sie vorgewarnt. Ich antworte, daß es dieses Stiegenhaus wert sei, nicht den Aufzug zu nehmen und weiß nicht, ob ich damit seine Vorwarnung erraten habe.
Wolfgang Koeppen, 1906 im pommerschen Greifswald geboren: ein Zuschauer im Leben, kein Mitspieler, kein Vorkämpfer; wie seine Figuren auch er ohne Glauben daran, daß intellektuelle Existenzformen den Gang der Geschichte aufhalten können. Die Trauer darüber, wie wir gelebt haben und leben, hat Wolfgang Koeppen in die Rolle des Betrachters gezwungen. Und über diese Trauer gibt es nichts zu sagen. Wolfgang Koeppen erzählt anderes, von seinem (Über-)Leben im Dritten Reich, gibt nun langsam Momente aus seiner Erinnerung frei, die er so lange Zeit für sich behielt.
1976 erschien bei Suhrkamp die autobiographische Skizze Jugend, seine bisher letzte Buchveröffentlichung. Seitdem warten seine Leser auf eine Fortsetzung der Autobiographie, die er versprochen hat und nie geschrieben. Jetzt arbeitet er an einem neuen Buch, das, wie viele seiner früheren Werke, aus einer Liebe und Enttäuschung entstand. Diesmal lautet ihr Name Petra, wie jener der rosaroten Stadt in der Felsenküste Jordaniens.
Margit Knapp Cazzola: Würden Sie sagen, daß Sie durch Ihre Biographie eine Verantwortung haben?
Wolfgang Koeppen: Ja, ich habe vielleicht die Verantwortung, nicht genug oder in allzuschwachen Kräften dazu beizutragen, daß das Militär scheitert oder aufhört, das würde ich Verantwortung nennen. Alle militärischen Sachen sind seit meiner frühesten Kindheit eine schlechte Vorstellung, eine Schreckensvorstellung, nie eine Militärbegeisterung, nie. Es wäre ein Zeichen von Verantwortungslosigkeit, an einem Krieg aktiv teilzunehmen. Sie regen mich an, Pascal zu zitieren, der gesagt hat, alles menschliche Unglück kommt daher, daß man sich nicht entschließen kann, zu Hause zu bleiben. (lacht)
Auch Sie sind nicht „zu Hause geblieben“, in einem anderen Sinn. Als Sie Mitte der dreißiger Jahre Ihre ersten Romane „Eine unglückliche Liebe“ und „Die Mauer schwankt“ veröffentlichten - programmatisch im jüdischen Cassirer Verlag - lebten Sie im holländischen Exil. Wohin emigrierte Bruno Cassirer?
Der Familie Cassirer gehörte die deutsche Kabelgesellschaft, ein Millionenunternehmen. Er ist nach London emigriert und hatte dort eine tolle Gemäldesammlung. Er war kein mittelloser Emigrant. Ein außerordentlich kultivierter Mann und ein guter Verleger war er. Als ich ihn kennenlernte, war das Dritte Reich schon ausgebrochen und es wurde alles ganz anders - sonst wäre ich wahrscheinlich heute noch bei ihm. Im Dritten Reich, als Cassirer einging, habe ich keine Bücher veröffentlicht.
Und unmittelbar nach dem Krieg?
Wir alle hungerten und schlugen uns auf eine merkwürdige Weise durch... Ich habe auch etwas für Zeitungen geschrieben, nicht so richtig (Pause). Ich habe unter einem Pseudonym ein Buch über einen Mann geschrieben, der aus dem(Pause) Ghetto und in diesem Konzentrationslager in Polen zurückgekommen war und mir seine Aufzeichnungen überließ und nach Amerika auswanderte. Er schickte mir monatlich zwei Care-Pakete aus Amerika, das war mein Honorar. Ich habe sogar gedacht, mir es nun nochmal anzugucken, ob man das nicht in der Edition Suhrkamp machen könnte, nur ergibt sich dann eine sehr komplizierte Rechtslage wegen der Urheberrechte.
Eine seltsame Situation.
Seltsam (Pause). Ja, es war wahrscheinlich auch eine seltsame Zeit. Sie vergessen, ich hatte Glück und war froh, das Dritte Reich überlebt zu haben. Es sah verschiedentlich nicht so aus. Sie hätten allen Grund gehabt, mich aufzuhängen, oder was sie sonst machten. Die Jahre unter Hitler waren verlorene Jahre für mich, jedenfalls für den Schriftsteller verlorene Jahre. Das Jahr '33 verbrachte ich noch bei einer Zeitung, beim 'Berliner Börsenkurier‘, dann ging der ein, Ende '33. Ich muß sogar sagen, ich war gern Journalist, es war eine eigenartige Tageszeitung in Berlin, das Blatt war in seinem politischen Teil demokratisch liberal, im Wirtschaftsteil hochkapitalistisch und im Feuilleton kulturbolschewistisch.
Das war ja oft so, daß das Feuilleton...
Ja, bei der 'Frankfurter Allgemeinen‘ war es ein bißchen so, aber man kann nicht sagen, daß das Feuilleton bolschewistisch war (lacht). Es bietet sich an. Aber es haben in dem 'Börsenkurier‘ damals die besten Schriftsteller veröffentlicht. Und ich war da auch nur so hingekommen. Ich war kein gelernter Journalist, aber der Theaterkritiker des Blattes hatte etwas von mir gelesen und bat mich mal zu einer Besprechung und als ich wegging, war ich Feuilletonredakteur des 'Berliner Börsenkuriers‘, und ich muß sagen, ich habe das nicht bereut, vier Jahre war ich da und am Ende war ich Chef des Feuilletons. Das hätte weitergehen können, obwohl ich - wäre nicht Hitler gekommen
-darauf hinarbeitete, die Stelle des Kulturkorrespondenten in Paris zu bekommen.
Hat man Ihnen danach andere Arbeitsangebote gemacht?
Ja, ich bekam ein Angebot, das ich mir sogar ganz reell überlegte, Theaterkritiker an der 'Berliner Zeitung am Mittag‘, ein Boulevardblatt. Aber ich fuhr erst mal nach Italien. Ich wußte, ganz egal, wenn ich zu dieser Zeit an eine deutsche Zeitung gehe, kann ich mich nicht vollkommen fernhalten von der Partei, das ist ausgeschlossen. Irgendwie werden die eines Tages etwas von mir verlangen, daß ich was schreibe, was ich nicht schreiben will. Naja. Dann fing ich an, in Italien an meinem Roman „Eine unglückliche Liebe“ zu arbeiten, das heißt, ich kam nach einem halben Jahr aus Italien zurück und hatte vielleicht zwei Seiten von dem Roman geschrieben, über den ich schon einen Vertrag mit Cassirer hatte. Aber dann habe ich mich eben in Berlin hingesetzt und das Buch so fertig bekommen, daß es noch im Herbst erscheinen konnte. Herbst '34.
Wo waren Sie in Italien, in Sizilien?
Ja. Ich fuhr erst gleich nach Agrigent, dann war ich in Venedig und habe beide Male Rom nicht gesehen, habe in Rom damals keine Station gemacht.
Italien als Fluchtland aus deutschen politischen Verhältnissen hat ja eine große klassische Tradition.
Jaja, natürlich. Es war noch keine richtige Emigration, ich wollte zunächst noch zurückkehren, tat das ja auch und ließ das Buch dann erscheinen. Aber es war meine erste Reise nach Italien überhaupt. Die nahm mich schon in einer angenehmen Weise mit. Ich kam nach Agrigent, das Hotelpersonal saß abends vor dem Haus, hatte ein Holzfeuer angezündet, um sich dort zu wärmen.
Ich mietete mir einen Esel und ritt zu den Tempeln von Agrigent. Mein Wort war ein vornehmer Herr, ein Cavaliere, der sagte zu mir: Kommen Sie abends mit, da werden Sie es warm haben. Gut, ich ging mit ihm und im Keller eines Hauses, sehr schön eingerichtet, war der Puff von Agrigent, da brannte ein herrliches Kaminfeuer und es war sehr, sehr gemütlich. Alle besseren Leute von Agrigent trafen sich hier abends, da war auch der Schullehrer, der sprach etwas Deutsch, ich konnte damals kein Italienisch. Auch der Bürgermeister und der Militärkommandant kamen und die Mädchen in diesem Puff waren eigentlich Nebensache. Es war eine gemütliche Herrenzusammenkunft.
Und nach Agrigent?
Da fuhr ich nach Taormina und blieb zwei Monate. Es gefiel mir sehr. Meine Nächte verbrachte ich auf dem Friedhof von Taormina, da hatte sich eine Jungenbande gebildet. In Tormina lernte ich zu meiner großen Freude Andre Gide kennen, er kannte sich aus in Taormina und gab mir zu verstehen, der Friedhof sei zu gefährlich. Aber ich war wirklich befreundet mit den Jungens und lernte dort Italienisch. Dann kam ich nach Venedig und war stolz auf meine Italienischkenntnisse. Alle Leute waren entsetzt, ich habe nämlich einen ganz ordinären sizilianischen Dialekt gelernt dort. Es war sehr nett. Ich möchte heute noch eine Geschichte darüber schreiben oder etwas wie ein Fernsehspiel. Italien war ja ein faschistischer Staat, wenn auch ganz anders, harmlos gegen das Dritte Reich. Aber ich hatte mit dem faschistischen Italien nichts zu tun. Ich habe weder versucht, den Duce zu stürzen noch sonst etwas. Aber eine schöne Nebengeschichte. Ich wohnte in dem Hotel neben der Rialto-Brücke, es hieß auch Rialto. Und da ging mir aus den aufregenden Ereignissen das Geld aus.
Die aufregenden Ereignisse waren, daß Sie eine Frau kennenlernten?
Oh ja, ja. Eines Tages stand ich auf dem Bahnhof in Venedig und verabschiedete eine junge Schauspielerin, die nach Zürich fuhr und ich stand ohne Geld da, völlig ohne Geld. Sie wußte das gar nicht. Außerdem hätte sie das Problem auch nicht lösen können. Und das Schöne war, Cassirer konnte mir als Jude kein Geld aus Deutschland schicken. Da wäre er schwer damit reingefallen, 1934. Und dann, naja. Das Hotel, in dem ich wohnte, hatte unten das Luxusrestaurant von Venedig. Und der Besitzer - das war ein wahres Wunder sagte: Sie können so lange zum Essen kommen, bis Sie bezahlen können. Schließlich kam über Zürich von Cassirer das Geld, illegal rausgeschmuggelt aus Deutschland. Es reichte gerade, um nun meine große Essens- und Hotelschulden zu bezahlen - und für eine Fahrkarte nach Berlin.
In Berlin blieben Sie aber nicht lange?
Nein. Da schrieb ich das Buch „Eine unglückliche Liebe“ fertig und fuhr nach Holland, wo ich mehr als vier Jahre wohnte.
Wann kamen Sie von Holland zurück?
Etwas vor Kriegsausbruch. Ja.
Wohin gingen Sie denn?
Nach Berlin. Das heißt, auf einem Umweg (Pause). Ich wußte, wäre ich in Holland geblieben, hätte ich den Krieg nicht überlebt. Denn ich war der Gestapo durchaus bekannt, ich hatte in Emigrantenzeitungen geschrieben und außerdem war ich befreundet mit Klaus und Erika Mann, schrieb für ihr Kabarett, undsoweiter. Aber, ich hatte überhaupt Glück, hatte wahnsinnig viel Glück. Es ist mir gar nichts passiert.
Warum sind Sie aus Holland nach Berlin zurück?
Ja, wo sollte ich sonst hin? In Holland wäre meine Existenz nicht zu halten gewesen. Ich sah voraus, daß Holland besetzt wird.
Aber Berlin war noch gefährlicher.
Ja, aber in Berlin waren meine Möglichkeiten größer.
Unterzutauchen?
Ja, ja. Zunächst tauchte ich gar nicht unter. Ich war damals, als der 'Börsenkurier‘ eingegangen war - warum erzähle ich Ihnen das alles überhaupt? Es ist egal, warum für eine kurze Zeit zu meiner Tante nach Schleswig-Holstein gefahren, und da hatte ich mich polizeilich angemeldet. Diese Anmeldung bestand noch und so fuhr ich wieder zu meiner Tante und mit einer Abmeldung nach Berlin, meldete mich dort an, ohne irgendwelche Schwierigkeiten zu haben.
Damit die Hollandzeit nicht aufschien?
Ja. Naja. Und dann habe ich mich - was manche Intellektuelle, Literaten taten - beim Film untergestellt.
In Berlin?
Und auch in München. Ich habe für die Bavaria damals gearbeitet. Ich habe nie einen eigenen Stoff geliefert, sondern vorhandene Drehbücher bearbeitet.
Wie lange haben Sie für die Bavaria gearbeitet?
Ach, mehrere Jahre.
Also auch in den Kriegsjahren.
Ja. In München wohnte ich die ganze Zeit im Hotel Königshof, auf Kosten der Bavaria.
Sie sagten, Sie wollten für keine Zeitung arbeiten, weil Sie da mit der Partei in Verbindung gekommen wären. Das gilt ja für die Bavaria in verstärktem Maße.
Nein, das gilt insofern nicht - erstens war ich klüger geworden im Umgang mit Nazisten und zweitens waren das alles - ich konnte mir das auswählen - völlig unpolitische, dumme Filme. Die Personen dieser Filme begrüßten sich nicht einmal mit „Heil Hitler“. Ich hatte ein ziviles Schattendasein. Aber, daß ich dann eben doch untergetaucht bin, kam daher, daß sie wollten, daß ich einen Film, der ein Nazi-Film gewesen wäre und auch war, hätte bearbeiten sollen. Das wollte ich nicht. Ich will den Film auch weiters nicht nennen.
Es war zu erwarten gewesen, daß Sie früher oder später...
Ja, es war auch zu erwarten gewesen. Ich habe mich auch darauf vorbereitet. Ich hatte den Auftrag und tat nichts und eines Tages rief mich der Direktor der Bavaria an und sagte mir, wenn ich in vierzehn Tagen das fertige Drehbuch nicht abliefere, wüßte ich wohl, was geschehen würe und ich sagte zu ihm: ja, ich weiß. Und dann verschwand ich.
Wie tauchten Sie in Berlin unter?
Ganz einfach. Das Haus, in dem ich in Berlin wohnte, war nachts von einer Bombe getroffen worden und war völlig zerstört. Aber ich war nicht zu Hause gewesen. Ein Regisseur, ein Kollege sagte mir: Koeppen, das Haus existiert nicht mehr, es ist ein Schutthaufen. Naja, dachte ich dann, das ist die Gelegenheit, zu verschwinden.
Sie haben die anderen in dem Glauben belassen, daß Sie unter den Toten waren? Wohin sind Sie dann?
Ja. Wo bin ich hin. Nach Bayern, an den Starnberger See. Aber ich erzähle Ihnen Dinge aus meinem Lebenslauf... Meine Biographiegeschichten, die möchte ich eigentlich gar nicht, daß Sie die veröffentlichen, ich will sie gar nicht veröffentlicht haben und wenn, schreib ich die selbst.
Das sagen Sie schon lange.
(lacht)
Sie arbeiten im Moment an einem Buch, aber wieder ist es nicht die versprochene Fortsetzung der Autobiographie.
Momentan hänge ich auf einer Schiffsreise. Nach Indien. Also, im chinesischen, indischen, arabischen Ozean. Ich war auf dem Schiff. Es war scheußlich und für mich sehr enttäuschend. Ich wollte jedesmal, wenn ein Hafen kam, aussteigen. Aber ich hatte leider nicht den Mut dazu.
Wie lange waren Sie unterwegs?
Genau 30 Tage. Im letzten Jahr. Ich bin in Singapur an Bord gegangen und in Genua ausgestiegen. Ich hatte ein Ziel, es sollte der Höhepunkt meiner Reise sein, ich wollte nach Petra, die alte Totenstadt in Jordanien. Aber ich bin nicht nach Petra gekommen, ich bin vor der Tür sozusagen gestanden.
Das Schönste an der ganzen Reise war ein Nachtflug mit der KLM von Amsterdam nach Singapur. Einmal wechselte die Crew, ich weiß heute noch nicht, wo, wir standen auf freiem Feld, es war warm. Ich bin für eine Weile nachts ausgestiegen und wußte nicht, wo auf dem Erdball ich stehe und das war sehr, sehr schön.
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