: Frauen in Dunkelarrest
■ Die Autorin verbrachte fünf Jahre im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück Aus Anlaß ihres Todes dokumentieren wir folgende Erinnerung
Margarete Buber-Neumann
Das Lagergefängnis von Ravensbrück hatte eine erstaunlich gute Akustik. Seine Erbauer, Häftlinge aus dem Bibelforscherblock, hätten es nicht besser machen können. Durch Klopfen einigte man sich auf eine bestimmte Stelle, möglichst weit ab von der Zellentür, hielt den Mund oder das Ohr ganz dicht an die Wand und sprach dann mit seinem Leidensgefährten von nebenan. Noch besser ging es, wenn man den Aluminiumbecher zu Hilfe nahm, der als Telefonmuschel und Hörer zugleich diente.
Bisher unterhielt ich mich nur mit der linken Nachbarzelle, mit Presserova und Maria Graf, zwei tschechischen Häftlingen. Von ihnen lernte ich auf diese Weise sogar Text und Melodie eines traurigen tschechischen Liedes.
Heute klopft es das erste Mal von rechts. Ich krieche an der Wand entlang, presse das Ohr an den kalten Stein, bis ich in der Ecke am Fenster die Stimme einer Frau vernehme.
„Ich heiße Betty Schneider und bin von Block 2. - Wer bist du denn?“ - Ich stelle mich vor. Wir kennen uns von 1940, als ich eine Zeitlang Stubenälteste bei den Prostituierten in Block 2 gewesen war. Die Erinnerungen an jene Monate gehören nicht zu den besten meiner Lagerjahre.
Betty klagt mir ihr Leid. Sie ist in eine schlimme Sache mit Häftlingen aus dem Männerlager Ravensbrück verwickelt, die sich zutrug, als ich schon im Lagergefängnis saß. Eine Kolonne von Frauen - es waren Asoziale - mußte bei der Mauer, hinter der das Männerlager beginnt, „Splittergräben“ ausheben. Auf der anderen Seite arbeiteten zur gleichen Zeit Männerhäftlinge. In die trennende Mauer war ein Loch geschlagen worden, durch das man den auf Loren geladenen Sand abtransportierte. In Kürze herrschte zwischen den Männern und Frauen ein reger Austausch von Kassibern und Lebensmitteln. Auf Verabredung versteckte man eines Samstags eine Asoziale in einer Lore, deckte sie sorgfältig mit Säcken zu und schob sie ins Männerlager. Dort blieb sie bis Montag früh vor dem Zählappell, da damals die Appelle am Samstagabend und am Sonntag vorübergehend abgeschafft worden waren. Sicher hat der Neid den Mitwisserinnnen unter den Asozialen keine Ruhe gelassen, und so wurde die ganze Geschichte denunziert.
Von Betty wollte der Gestapomann Ramdor noch andere Aussagen erpressen. In die Kürschnerei des Männer- und Frauenlagers kamen waggonweise Pelze, die für Uniformen verarbeitet wurden. Ihre ehemaligen Besitzer hatte man im Gas ermordet. In diesen Mänteln fanden Häftlinge die letzte Habe der verschleppten Menschen: Geld, Schmucksachen und Gold. Trotz strengster Weisung, alles an die SS abzuliefern, war eine Zeitlang das Lager voller Ringe und anderer Wertgegenstände. Einige Männerhäftlinge hatten über die Bewachungssoldaten versucht, diese Schmucksachen nach draußen zu verschieben. Sie wurden verraten und Betty als Mitwisserin denunziert.
Unsere erste Unterhaltung wird jäh unterbrochen, denn draußen nähern sich Schritte der SS-Aufseherin. Wie gut, daß sie Stiefel trägt. Ich springe zum Schemel und tue so, als säße ich dort seit vielen Stunden und täte nichts anderes, als im Dunkeln zu dösen. Das Licht wird von außen angeknipst, die Klappe des Spions beiseite geschoben, und ein Blick überzeugt die SS-Obrigkeit von meinem mustergültigen Verhalten.
Wieder im Dunkeln, beginne ich mit meiner Lieblingsbeschäftigung: dem Rezitieren von Gedichten. Aber dafür hat Betty kein Verständnis. Sie klopft. „Ob sie mich am Freitag verprügeln werden?“ fragt sie. Im „Bunker“, so heißt das Gefängnis im Lagerjargon, wird jeden Freitag die Prügelstrafe vollzogen. Alle Eingesperrten zittern vor diesem Tag, weil sie ja nicht wissen, ob sie nicht unter den Opfern sein werden.
Betty geht es genauso wie mir. Auch sie liegt in Dunkelarrest und bekommt nur jeden vierten Tag das normale Lageressen. Sie leidet schrecklich unter Hunger. Doch für meine Gier nach Licht bringt sie kein Verständnis auf. In der Dunkelheit der Zelle unterscheidet sich der Tag von der Nacht nur durch einen matten Schimmer, der unter dem Türspalt hindurchleuchtet. Ich hocke am Fußboden, starre auf den schmalen Streifen Helligkeit, krieche immer näher an ihn heran, liege schließlich ausgestreckt und presse das Gesicht auf den schwachen Abglanz des geliebten Tageslichtes.
Die Tage im Bunker vergehen. Auch in der Dunkelheit muß jede Stunde durchlebt werden. Das Brot war morgens ausgeteilt worden und sorgfältig in drei Teile gebrochen: für den Morgen, das Mittag- und das Abendessen. Betty klopft. Ich laufe zur Ecke, aber sie ist nicht an der Wand. Ich lausche. Sie pocht gegen den Fußboden. Ich lege das Ohr auf die Dielen und höre zu meiner Verwunderung deutlich eine Männerstimme: „Betty, wie hast du geschlafen?“ - Und dann Bettys Antwort: „Danke, Karl! Gut! Aber hungrig bin ich schrecklich. Und heute ist erst der zweite Tag...“ - „Betty, jetzt ist es ganz still. Willst du uns nicht ein Lied vorsingen?!“ - „Gern!“ Und Betty singt: „Karelchen, du liebes Karelchen...“ Das hatte sie umgedichtet für den Karl da unten in der Zelle, denn eigentlich hieß es „Peterle, du liebes Peterle...“
Karl kannte nicht Betty und Betty nicht Karl. In jeder stillen Minute im Zellenbau klopften die beiden miteinander. Betty erzählt dem Karl, aus welcher Stadt sie ist, wie sie als Kind war und immer wieder von ihren Erfolgen bei Männern. Karl fragte: „Betty, wie siehst du eigentlich aus? Bist du groß?“ Und die Antwort: „Ja, groß und sehr schlank.“ - „Bist du blond?“ - „Ja, blonde Locken und blaue Augen.“ Ich kannte Betty von Block 2. Sie war klein und zierlich, hatte braune Augen und dunkle Haare. Ein wirklich hübsches Mädchen. Aber nun muß sie so sein, wie Karl sie sich wünscht. - In Karls Zelle liegen noch zwei andere Männer. Der eine heißt Robert. Alle drei erwarten ein Todesurteil wegen „Diebstahls an Wehrmachtsgut“.
„Hast du mich wirklich lieb, Karl?“ fragt Betty zärtlich. Und Karl, der mit einem Fuß auf dem Klapptisch seiner Zelle balanciert und sich ans Fenster klammert, um nahe der Decke sprechen zu können, beteuert, nur sie zu lieben. - „Karl, wenn wir rauskommen, wirst du bei mir wohnen. Ich habe ein hübsches Zimmer. Und dann sind wir abends zusammen, die Tischlampe brennt, ich habe meinen rosa Pyjama an. Du sitzt neben mir auf der Couch...“ Es poltert. Karl springt mit einem Satz von seinem Horchposten. Der Aufseher der Männer naht.
Kurze Zeit später, an einem Sonntag, klopft es wieder. Ich krieche zu meinem Horchposten auf dem Fußboden. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, was da geschieht. Karl klopft gegen die Decke seiner Zelle und fragt: „Was ist das, Betty?“ - Und ich höre die Antwort: „Meine Schulter.“ - „Und das?“ - „Mein Arm...“ „Mein Rücken...“ „Mein Bein...“ „Mein Schenkel...“ Sie lieben sich. Es ist zum Erbarmen.
Von irgendwoher dringt in die Zelle der Gestank von verbranntem Fleisch. Nicht lange, bevor ich in den Zellenbau kam, hatte ich die ersten Schreckensnachrichten von Auschwitz gehört, sie aber nicht geglaubt. Nachdem der mich verhörende Gestapomann Ramdor mir den Transport nach Auschwitz androht, sind meine Nerven offenbar empfindlicher geworden. Ich wende mich an Betty: „Sag mal, spürst du in deiner Zelle auch so einen stinkenden Rauch?“ - „Aber natürlich! Weißt du denn nicht, daß hinter dem Zellenbau das neue Krematorium angefangen hat zu arbeiten?!“ Weit über zwei Monaten bin ich in Dunkelarrest und kenne nicht die neuen Errungenschaften von Ravensbrück.
Vor dem Zellenfenster liegt ein kleiner Gefängnishof. Dort haben die Sonderhäftlinge ihren Rundgang. Einmal ruft eine Männerstimme zu irgendeiner Zelle hinauf: „Hast du schon das Neueste von Tunis gehört?!“ Mehr konnte ich nicht verstehen. Ich klopfte Betty. Sie weiß von nichts, denn ihre Liebesbeziehung durch die Wand zu Karl hat gerade die erste Trübung erlitten. Und das beschäftigt sie völlig. Sie schlägt mir vor, die Männer in der Zelle unter der meinen zu fragen, ob bei denen vielleicht ein Politischer drin ist. Das tue ich dann. Es dauert eine geraume Zeit, bis die Verbindung hergestellt wird. Ich frage: „Hast du Neuigkeiten von der afrikanischen Front gehört?!“ - Er antwortet: „Wie heißt du denn? Und wie alt bist du, und auf welchem Block?“ Nachdem ich seine Neugier befriedigt hatte, ließ sein Interesse sofort nach. Ich hätte klüger daran getan, Bettys Methode anzuwenden. Aber mich interessierte Tunis, und die da unten die Frauen...
Betty verzehrt sich vor Eifersucht. Karl und die beiden anderen Männer sind nicht in Dunkelarrest. Und da haben sie sich, wenn die Sonderhäftlinge spazierengingen, am Fenster hochgezogen und sich mit einer jungen Rumänin unterhalten. Ich höre von außen den Ruf: „Härr Karräl!!“ Und danach Gespräche und Gelächter, ja, sogar Lieder. Abends tönt es zweistimmig zum Gefängnishof hinaus: „Gute Nacht! Gute Nacht! Gute Nacht! Schlafe wohl, liebes Kind. Gute Nacht!... Wenn die Sterne am Himmel erscheinen, gute Nacht...“ Ein heiteres „Danke schön, Härr Karräl!“ ist die Antwort. Dann trommelt Betty mit den Fäusten auf den Fußboden und bedenkt Karl mit einer Flut von Verwünschungen. - Die schöne Harmonie ist zerstört...
Anfang Juli, ich war lange nicht beim Verhör gewesen, kamen vormittags die Aufseherin Binz und die Kalfaktorin mit einer Leiter in meine Zelle. Ich vermutete eine Durchsuchung, aber nein, die Rolljalousien werden hochgezogen! Und es ward Licht! Ich weiß nicht mehr, ob ich gebetet oder geweint oder gesungen habe. Ich klettere mit aller Anstrengung zum geöffneten Fenster hinauf. Einen Fuß gegen den Klapptisch gestützt, klemme ich das Gesicht in den schmalen Fensterspalt. Ich spüre Sommerluft und sehe über dem Rand der Lagermauer Sonne, die auf den neuen Schornstein des Krematoriums scheint, sehe blauen Himmel und rechts vom Schornstein, ganz in der Ferne, eine Kirchturmspitze. Bis meine Arme erlahmen, trinke ich den Anblick von Sonne und Tageslicht und bin berauscht vor Glück, leben zu dürfen.
An diesem Tag wurde mir nicht nur Licht geschenkt: Die Tür geht auf, und mit verstörten, bleichen Gesichtern treten zwei Leidensgenossinnen ein: Maria Graf und Presserova. Das gequälte Herz ist kaum fähig, so viel Freude zu ertragen. Ganz verzückt hängt mein Blick an ihren Gesichtern, glückselig lausche ich ihren lieben vertrauten Stimmen. Durch ihre Gegenwart und ihre Schmerzen versinkt im Nu alles, was in den vergangenen Monaten Schreckliches geschah. - Jetzt besteht der Tag nicht mehr aus einsamen, dunklen, endlos gedehnten Stunden des Wartens. Den beiden droht die Gefahr schwerer Lagerstrafen, und ich muß ihnen raten und sie trösten.
Nachdem im Sommer 1942 die Bibelforscher die Arbeit verweigert hatten, wurde die Kolonne „Angorakaninchenzucht“ aus tschechischen und deutschen politischen Häftlingen gebildet. Zu diesen gehörten Maria Graf und Presserova. Die Transportarbeiten der Angorakaninchenzucht erledigte ein Zivilarbeiter, der bei den Häftlingen der „kleine Kutscher“ hieß, denn er war ungewöhnlich klein gewachsen. Dieser Kutscher muß nach der Schilderung aller eine Seele von Mensch gewesen sein. Es dauerte nicht lange, bis er den Häftlingen half, wo er nur konnte. „Linke“ Briefe an die Angehörigen wurden geschmuggelt, ja, er ließ sogar die geheimen Antworten an seine eigene Adresse in Fürstenberg schicken und erklärte sich bereit, daß man an ihn aus Prag Medikamente für eine an schwerer Anämie leidende Tschechin schickte. Ich habe vergessen, durch wen die Häftlinge der „Angorazucht“ und der „kleine Kutscher“ verraten wurden. Alle kamen in den „Bunker“, auch die kranke Tschechin, der „kleine Kutscher“, seine Frau und seine Tochter. Das Unglück war, daß man in deren Fürstenberger Wohnung ein Paket Briefe fand. Ramdor ließ es sich nicht nehmen, sogar nach Prag zu den Angehörigen der Tschechen zu fahren, die über den Kutscher Briefe und Pakete gesandt hatten, sie zu verhören und mit Verhaftung zu bedrohen. Den armen Frauen im „Zellenbau“ aber sagte er, daß ihre Männer und Eltern nun festgenommen würden. Leider hatte eine von den Frauen bereits gestanden und die anderen schwer belastet. Nach Wochen fällte Ramdor das Urteil gegen die Kolonne „Angorakaninchenzucht“: Maria Graf erhielt fünfundzwanzig Stockhiebe, einige andere kamen in den Strafblock, Presserova kam gegen jede Erwartung frei, der „kleine Kutscher“, seine Frau und Tochter ins Konzentrationslager. Die Kranke wurde aus dem Bunker entlassen, konnte sich aber nie erholen und starb in Ravensbrück.
Die Tage, die wir, Maria Graf, Presserova und ich zusammen in der Zelle waren, scheinen mir in der Erinnerung reine Heiterkeit gewesen zu sein. Wir sangen, ich lernte geduldig einige tschechische Lieder, wir teilten redlich unser Essen, und jeden Abend kniete Maria am Boden und betete in sich versunken.
Aus: Die erloschene Flamme. Schicksale meiner Zeit, Langen -Müller, München 1976
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