Die Ost-Opposition hofft auf Neugierde aus dem Westen

Was die westliche Linke mit der Berliner Mauer zu tun hat und warum deren Fall eine Chance ist: Die östliche Linke hat jetzt schließlich die Möglichkeit, eine demokratische, ökologische und sozialistische Gesellschaft zu entwickeln  ■  Von Erich Rathfelder

Als die Mauer am 13. August 1961 gebaut wurde, war ich vierzehn und fuhr gerade in einem Bus von einem Jugendlager heim nach München. Ein paar Tage später konnte ich meine Verwandten in West-Berlin besuchen, das plötzlich zur Insel geworden war. Der Schock saß noch allen in den Knochen und führte zu hysterischen antikommunistischen Ausfällen - in der Westpresse ebenso wie bei der Verwandtschaft.

Auch der anderen Seite, „dem Osten“, war in diesem Kampf weiterhin jegliches Mittel recht. Noch heute klingt mir ein Lied in den Ohren, das damals aus allen DDR-Kanälen schallte: „Im Jahre 61, am 13.August, da schlossen wir die Grenze, und keiner hat's gewußt. Klappe zu, fallera...“

Der Zynismus, die Häme, diese Menschenverachtung, die aus diesen Zeilen spricht, hat mich damals tief erschüttert. Die Gründe zur Rechtfertigung des Bauwerks, die später auch in der APO zeitweise populär wurden, haben andere westliche und östliche Linke angesichts des rein instrumentellen Verhältnisses der Macht zu den Mitgliedern der Gesellschaft niemals überzeugen können. Sollte ein Sozialismus gegen den Willen der Menschen aufgebaut werden können?

Die Argumente für den Mauerbau machen nur immanent, innerhalb der Rationalität der SED-Herrschaftssicherung, einen Sinn. Seit 1949 verließen mehr als 200.000 Menschen das Land. Sicher verlockte auch damals schon das sich entwickelnde Konsumparadies BRD, die höheren Löhne und die Reisemöglichkeiten zum Systemwechsel. Die SED hatte damals aber auch keinen Versuch unternommen, durch die Demokratisierung des Systems, durch den Aufbau eines demokratischen Sozialismus, diesem Weggang von oft wichtigen Arbeitskräften und Menschen entgegenzuwirken. Sie verließ sich lieber auf die sowjetische Hegemonialmacht, die eine Destabilisierung der DDR in den Zeiten des kalten Krieges nicht hinnehmen wollte.

Vor allem in West-Berlin führten die Erfahrungen mit der Mauer in den sechziger Jahren zu einer verhärteten Haltung der Bevölkerung gegenüber allen emanzipatorischen und linken Bestrebungen. Die Kugeln auf Rudi Dutschke, das blutige Attentat waren eben nicht nur Springers Werk, sondern ein Ausfluß des Hasses auf alles, was nach Kommunismus roch. In dieser verhärteten antisozialistischen Welt war es dann auch in der Neuen Linken nicht gerade einfach, einerseits die Mauer abzulehnen und andererseits an linken Positionen festzuhalten.

Viele Linke zogen eine Vogel-Strauß-Position vor. Sie blendeten einfach das Mauerproblem aus, setzten sich kaum mehr mit der DDR oder mit anderen Gesellschaften des damals sogenannten „realen Sozialismus“ auseinander. In den so bewegten siebziger Jahren, in der Anti-AKW-Bewegung, in der aufkommenden Frauenbewegung, in der ökologischen Bewegung definierte man sich bewußt oder unbewußt als integraler Bestandteil des westlichen kapitalistischen Systems. Auch für Westberliner Linke lagen Chile, Portugal, Nicaragua oder Angola emotional näher die Sowjetunion oder gar Ost-Berlin. Diskussionen über den Stalinismus oder Leninismus wurden als störend empfunden. Noch heute sind Engagierte in Solidaritätsbewegungen mit Ländern der Dritten Welt oftmals blind gegenüber den unkritischen Übernahmen dieser Theorien durch die „antiimperialistischen“ Bewegungen dieser Länder. Über den Umweg der Dritten Welt hatten noch in den achtziger Jahren stalinistische und leninistische Politikvorstellungen in der grün-alternativen Szene wieder Fuß gefaßt. Das konnte nur geschehen, weil sie sich nicht intensiv mit den Politikformen des realen Sozialismus auseinandersetzte, sondern sie ausblendete. Wer sich dagegen für die Oppositionen im „sozialistischen Blocks einsetzte, stieß bei vielen weiterhin auf politisches Mißtrauen.

In den sozialistischen Ländern dagegen begegneten die Oppositionellen gerade aus diesem Grund der westlichen Linken mit Mißtrauen. Sie wurden als naiv belächelt oder gar zu Sympathisanten der herrschenden stalinistischen Nomenklatura verteufelt. Ansätze, über die Systemgrenzen hinweg gemeinsame Wege aus der Krise beider Systeme zu finden, haben sich eigentlich erst in den letzten Jahren entwickeln können. Je stärker allerdings die oppositionellen Kräfte des Ostens wurden, je mehr die Krisenerscheinungen des realen Sozialismus zutage traten und das Auftauchen eines Reformflügels innerhalb der kommunistischen Parteien begünstigten, desto mehr wurden die Mauern zwischen beiden Strömungen abgebaut. Mit dem Mauerfall wird symbolisiert, daß eine neue Etappe zwischen beiden Seiten beginnen kann. Dabei hofft die Opposition im Osten, die einige Inhalte der westlichen Linken zu akzeptieren gelernt hat, auf West -Neugier.

Die westliche Linke kann jetzt neidvoll auf die Möglichkeiten blicken, die es der östlichen Linken nun erlauben, die „Civil Society“, vielleicht sogar eine neue, zukunftsträchtige, demokratische, ökologische und sozialistische Gesellschaftsform zu entwickeln. Gerade das Zusammenspiel beider Kräfte in dieser neuen Situation könnte sehr spannend werden. Warum sollen nicht gemeinsame Werte in beiden Gesellschaften gemeinsam geltend gemacht werden? Der Fall der Mauer jedenfalls ist kein Zusammenbruch. Es ist die Chance auch für eine westliche linke Politik.