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Perestroika im Sauseschritt

■ In der europäischen Presse ist man sich einig / Die Öffnung der Berliner Mauer ist ein Jahrhundertereignis / Türkische ArbeiterInnen fürchten um ihre Jobs in der Bundesrepublik

Berlin (taz) - Die Entwicklung in der DDR war am Freitag auch in fast allen europäischen Staaten das Thema. Die deutsche Wiedervereinigung ist unausweichlich, so die einhellige Meinung in den Medien in Großbritannien nach der Öffnung der Mauer. Der 'Guardian‘ schreibt: „Unter der westdeutschen Bevölkerung wachsen die Sympathien für ihre ostdeutschen Brüder, die gezeigt haben, daß sie im Grunde Demokraten sind und wissen, wie man eine friedliche und sittsame Revolution macht“.

„Perestroika im Schnellschritt erfunden“, so kommentiert in Frankreich die Tageszeitung 'Le Figaro‘ die sich überstürzenden Entwicklungen in der DDR. Und die Boulevard -Zeitung France-Soir‘ triumphierte: „Die Schandmauer hat dieser Sturmböe der Freiheit nicht lange widerstanden, die im Vorbeigehen alles hinwegfegt.“ An der Zeitung 'Liberation‘ hingegen ging das Ereignis, das in den französischen Medien einhellig als eine der bedeutendsten Veränderungen in diesem Jahrhundert eingeschätzt wird, vorbei. Dort wurde am Donnerstag gestreikt.

In Belgien schreibt die Tageszeitung 'Le Soir‘: „Nach 28 Jahren entkommt der gekidnappte Teil Europas dem Ghetto.“ Die Mauer werde wohl nur als Touristenattraktion bleiben, und die DDR habe sich endlich völkerrechtlich einen Platz unter den Staaten dieser Welt verschafft, schreibt die Zeitung. Auch im nahen Nato-Hauptquartier in Brüssel und bei der EG-Kommission werden die Entwicklungen in der DDR aufmerksam verfolgt. Kommissionspräsident Jacques Delors bekundete in einem Telegramm an Bundeskanzler Kohl seine „Anteilnahme und Freude“ über die Entwicklung in der DDR. Nato-Generalsekretär Manfred Wörner bezeichnete die Öffnung der DDR-Grenzen als Teil eines unvermeidlichen Prozesses, der zu freien Wahlen und voller Selbstbestimmung führen müsse. Sie demonstrierten einmal mehr die überzeugende Kraft der demokratischen Ideale, für die die westliche Allianz eintrete, sagte Wörner.

In Österreich hatte man am Donnerstag abend das Thema schlichtweg verschlafen. Die populäre Fernsehsendung 'Club 2‘ spielte die aktuellen ZDF-Nachrichten ein. Und auch auch die österreichische Nachrichtensendung 'Zeit im Bild‘ brachte Ausschnitte aus 'heute‘. Am Freitag war die Entwicklung in der DDR dann aber das Thema. Im österreichischen Rundfunk sagte Vizekanzler Riegler: „Mitteleuropa lebt neu auf!“ Er sprach von der „„sensationellsten und tiefgreifendsten Veränderung in Osteuropa, wies auf ein Treffen der Außenminister von Jugoslawien, Österreich, Italien, Ungarn hin und beschwor eine neue blockübergreifende Achse in Mitteleuropa.

In Italien wurde die Entscheidung der DDR-Führung, die Grenzen zu öffenen, am Freitag gleichgesetzt mit dem Schleifen der Mauer, „wenn dies auch vorerst nur sozusagen ideell geschieht“ (so der italienische Rundfunk 'RAI‘). Ausnahmslos alle Zeitungen machten mit der Mauermeldung auf: „Deutschland, die Mauer bricht zusammen“ ('La Repubblica‘); „Berlin jenseits der Mauer“ ('il manifesto‘); „Nach 28 Jahren öffnet sich die Berliner Mauer“ ('La Stampa‘). Sandro Viola von 'La Repubblica‘ mißt in einem Kommentar dem Mauer -Sprung nicht soviel Bedeutung bei und ordnet ihn ein „in dieses phantastische Jahr 1989, das uns so unendlich viele Veränderungen gebracht hat“. 'Il manifesto‘ räumt dem Thema Deutschland gestern drei volle Seiten ein. 'La Stampa‘ distanziert sich deutlich von dem allgemeinen Jubel.

Unter dem Titel „Zuerst Europa, dann Deutschland“ heißt es da: „Nicht alle sind gleich gut vorbereitet. Der Westen weniger gut, weil er über die Wiedervereinigung ständig gesprochen hat, aber nie wirklich nachgedacht hat ... Jetzt heißt es, kühlen Kopf zu behalten und sich nicht so sehr in die deutsche Seelenlage zu vertiefen“.

In der Türkei hingegen war die DDR nur Thema auf den hinteren Seiten der Zeitungen. Nur die linke Zeitung 'Cumhurijet‘ titelte auf Seite eins: „Berliner Mauer geöffnet“. In einem anderen Artikel einer Korrespondentin aus Deutschland wurde jedoch gleichzeitig auf die Beunruhigung der türkischen ArbeiterInnen in der Bundesrepublik hingewiesen. Sie hätten Angst, durch die vielen Aussiedler aus der DDR ihren Job zu verlieren.

Auch in Griechenland konnte die Entwicklung in der DDR nicht die dicken Schlagzeilen zu innenpolitischen Problemen von der Titelseite der Zeitungen verdrängen. Die Tageszeitung 'Ta Nea‘ beispielsweise berichtete in großen Lettern über die „Bewegung von Andreas in Richtung Linkskoalition“ - „Osteuropa öffnet seine Grenzen“ wurde nur ganz klein vermeldet.

Einer Gruppe von DDR-Bürgern, die am Freitag die Öffnung der Grenzen zu einer Fahrt über die Ostsee nach Dänemark nutzen wollten, wurden noch vor dem Ablegen der Fähre wieder von Bord geschickt. Der Kapitän der Fähre hatte über Funk von den zuständigen dänischen Stellen die Auskunft erhalten, die DDR-Bürger könnten wegen fehlender Visa nicht einreisen.

Von unseren KorrespondentInnen

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