piwik no script img

Gemischte Gefühle

■ Die Berliner Schnauze am Morgen danach

„Ich bin wohl im richtigen Moment gelandet.“ Susan aus Kalifornien, am 9.November erstmals zu Besuch nach Berlin gekommen, ist schlichtweg platt: „It's great.“ Großartig finden es an diesem Freitag morgen auch die BerlinerInnen, daß die Grenze zur DDR für deren BewohnerInnen geöffnet wurde: „Daß ick det noch erleben durfte“, ist ein Satz, der vielen Älteren, die den Bau der Mauer erlebt haben, als einziger in ihrer Erschütterung einfällt. Aber auch Ungläubigkeit: „Das machen die nur, damit die Leute drüben die Schnauze halten“, sagt auf dem U-Bahnhof Berliner Straße ein Mann mit Weitblick und Bild-Zeitung. „Kennwa doch, die Zügel lockern, damit der Gaul nicht durchgeht. Und nächste Woche ziehense die Zügel wieder an, und Schluß is.“ Ein anderer Mann mit Blumen in der Hand straft ihn mit verächtlichem Blick. „Das sind unsere Brüder und Schwestern, ich freu‘ mich so, ich freu‘ mich so...“

In Berliner U-Bahnen, ansonsten durch Kommunikationsarmut gekennzeichnet, schwappen die Gefühle über. „Was wollen die denn hier, außer kieken können die doch nischt, haben doch kein Westgeld.“ Realitätssinn scheint die Hausfrau mit Schnäppchentasche auszuzeichnen. Aber auch: „Hundert Mark kassieren die ab, wenn die ein Gör mitbringen, kriegt das auch noch mal 'nen Hunni. Da kannste 'nen Nachmittag auf dem Ku'damm schon verplempern.“

Das Punkerpärchen, U-Bahn Mehringdamm, sieht es eher kinomäßig: „Ey, geh'n wa Ostis kieken aufm Kudamm.“ Zwei betrunkene Männer, Dauergäste auf dem U-Bahnhof, finden das weniger komisch. „Die ziehen die Kohle ab, und wir müssen auf dem Sozi Männchen machen fürn paar Märker.“ „Und vollstinken tun se alles, mit ihren Trabis. Da schreien sie nicht, unsere Ökos.“ „Noch steht sie ja, die Mauer“, sagt eine alte Dame leise vor sich hin. Widerspruch von gegenüber: „Aber Klasse ist es doch, daß die jetzt rüber dürfen, wa!?“

Petra Dubilski

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen