: Janz Berlin is eene Wolke
■ Die abgasträchtigen Trabis haben den Kudamm erorbert / Werden bald die Marzipankartoffeln knapp?
Donnerstag nacht im dichten Gedränge an den Berliner Grenzübergänge erkannte man sie noch an der ungläubig vor den Mund geschlagenen Hand. Am Freitag früh sind die Berliner (Ost) dann am suchenden Blick und am Stadtplan auszzumachen, mit dem sie in kleinen Grüppchen etwas ungelenk in Richtung Westberliner City ziehen. „Neenee, das darf doch nicht wahr sein, so ein Tag!“ murmelt eine ältere Frau in der U-Bahn vor sich hin, wo man schon das von Westberliner Politikern angemahnte Nun-müssen-wir-alle -zusammenrücken probt. „Morgen bin ich in Thüringen, heute in West-Berlin. Das glaubt mir ja niemand“, strahlt die Thüringerin, „und das alles mit ungeputzen Schuhen! Dafür war heut‘ früh ja gar keine Zeit mehr.“
Wie Tausende andere auch wollen sie und ihr Nachbar „nur mal gucken gehen, einfach mal über den Kudamm laufen“. Genau 1,50 D-Mark haben die beiden Thüringer Berlintouristen bei ihrem unverhofften Westbesuch im Portemonnaie. „Ob das wohl für eine Ansichtskarte vom Kudamm reicht?“ Die einheimischen Fahrgäste nicken wissend und ein wenig von oben herab. Eine Dame zückt ihr Portemonnaie und steckt der irritierten DDR -Bürgerin („nein, nein, wir wollen doch nicht betteln“) ganze 1,50 D-Mark zu: „Für 'ne Tasse Kaffee. Aber gehn Sie nicht ins KaDeWe, tun Sie sich das nicht gleich an. Das verkraften Sie nicht!“ kriegen die frischgebackenen Berlinbesucher noch als fürsorglichen Rat auf den Weg, bevor sie mit einem „Na, denn einen schönen Tag“ auf den Kurfürstendamm entlassen werden.
Berlins Konsummeile sieht währenddessen wie eine gutgemachte Fotomontage aus, über die vor zwei Wochen noch jeder gelacht hätte. Schon morgens um neun steht Trabi an Trabi auf den Parkstreifen, die - welch anachronistisches Vorhaben - von der rot-grünen Koalition gerade als Busspur eingerichten waren. Kurz nach Geschäftsbeginn ist das Parkhaus des KaDeWes schon voll mit den Blechkisten aus der DDR. Berlins Konsumtempel selber jedoch ist auf wundersame Weise fast menschenleer. Obwohl die Geschäftsleitung Gratiskaffee ausschenken läßt und die Ost-Mark hier zum Kurs von eins zu zehn an der Kasse umgetauscht wird, bleibt zunächst der große Andrang aus. Des Rätsels Lösung steht zwei Straßenecken weiter vor der Gedächtniskirche. In dichten Fünferreihen schlängelt sich eine mehrere hundert Meter lange Menschenschlange um die Filiale der Berliner Sparkasse. Während andere Banken sich längst mit einem eilig gemalten Schild „Hier keine Ausgabe von Begrüßungsgeld“ vor dem Ansturm gewappnet haben, warten hier Unzählige geduldig auf die Ausgabe der 100 D-Mark, ohne die der Gang in die Warenhäuser und Boutiquen nur frustrierender Appetitanreger wäre. Wer die Sparkasse dann endlich mit dem ersehnten „Blauen“ verläßt, wird mit frenetischem Applaus begrüßt. „Schlangestehen sind die ja gewohnt“, kommentiert einer der umstehenden Westberliner.
Unverhohlen macht sich an diesem Tag ein Gefühl der Überlegenheit breit bei den Westberlinern angesichts der orientierungslos und staunend durch die Stadt ziehenden kleinen Grüppchen „von drüben“. Und dieses wohltuende Gefühl des Heimvorteils können die Westberliner ganz gut gebrauchen, wo die Athmosphäre „ihrer“ Stadt nun allerorten nicht mehr von ihnen bestimmt wird. Denn bei aller Eurphorie und Aufregung in der Stadt, merken die Westberliner, daß es ganz schön eng wird um sie herum. Und nicht zuletzt wird manch einem schmerzlich bewußt, daß er ausnahmsweise nicht dem sprichwörtlichen Berliner Instinkt vertraut hat.
Schon seit Tagen grassierten an den Kneipentischen die halb sarkastischen, halb ernst gemeinten Ratschläge, vorsorglich schon jetzt sämtliche Weihnachtseinkäufe zu tätigen und Marzipankartoffeln zu hamstern, bevor die „Ossies“ alles wegkaufen. Aber jetzt ist alles so schnell gegangen, und vielleicht ist es längst geschehen um die Marzipankartoffeln. Die Westberliner Stammtisch -Lieblingsphantasie der letzten Tage - ein Häuschen am Müggelsee - ist da nur ein schwacher Trost: Auch da nämlich wird irgendwer wieder einmal schneller gewesen sein. Aber wie sagte Walter Momper so schön: Die Berliner haben schließlich auch die Blockade überstanden.
Ve.
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