: Zwischen den Polen
■ Günter Grass lehnte bei einer Diskussion mit Studenten in Danzig die Wiedervereinigung ab / Die Polen argumentierten dafür Über eine paradoxe Debatte: Deutschland, Polen, Parteien, Solidarnosc - für jeden etwas Unangenehmes
Klaus Bachmann
Das Phänomen ist inzwischen hinlänglich bekannt aus zahlreichen Debatten versöhnlich gestimmter Polen mit versöhnlich gestimmten Deutschen: Spätestens nach einer halben Stunde kommt das Gespräch auf die Wiedervereinigung, ganz gleich, ob das eigentliche Thema grenzüberschreitende Probleme der Bienenzucht oder polnisch-deutsche Vergangenheitsbewältigung betrifft. Und dann kommt es mit schöner Regelmäßigkeit zu einer Verkehrung der Fronten: Die polnischen Intellektuellen verteidigen mit Nachdruck die Idee der deutschen Wiedervereinigung, während die deutschen Diskutanten nicht minder eifrig bemüht sind, die Polen von den Vorteilen der Zweistaatlichkeit zu überzeugen. Ebenso sicher kann man jedoch sein, daß die Zuhörer solcher Debatten im Gegensatz zu den Intellektuellen auf dem Podium, zumeist eher den bundesdeutschen Wiedervereinigungsgegnern zustimmend zunicken.
Meinungsumfragen nämlich belegen, daß die Mehrheit der Polen nicht nur nach wie vor antideutsche Gefühle hegt, sondern sich auch vor einer deutschen Wiedervereinigung fürchtet. Es muß recht beruhigend auf die Zuhörer im Saal der Danziger Universität gewirkt haben, als Günter Grass ihnen mitteilte, daß auch er sich vor einer deutschen Wiedervereinigung fürchte.
Daß Grass die meiste Zeit über deutsch-deutsche Politik referierte, ergab sich aus der aktuellen Lage - dem Kohlbesuch. Eigentlich gekommen war er nämlich, eine Ausstellung seiner Kalkutta-Grafiken im Danziger Rathaus zu eröffnen. Doch davon war bald schon keine Rede mehr. Die polnische Presse zitierte nur noch - über alle Parteigrenzen hinweg - Grass‘ Äußerungen zum Thema Wiedervereinigung: „Wiedervereinigung ist der falsche Begriff. Unsere Nachbarn haben berechtigte Furcht vor einem starken, militarisierten Deutschland. Es ist allerdings gegen die Natur Europas, daß es in dessen Mitte zwei durch eine Mauer geteilte Staaten gibt, die sich feindlich gegenüberstehen. Ich bin für eine Annäherung zwischen der DDR und der BRD. Und ich hoffe auch, daß die DDR infolge der beginnenden Reformen, Glasnost und Perestroika, die DDR den Weg Polens und Ungarns gehen wird. Dann könnte ich mir zum Beispiel eine Konföderation beider deutscher Staaten vorstellen.“
Die Äußerung ging durch die Presse, von Kunst und Literatur war fortan nur noch wenig die Rede, um so mehr von Politik. Denn Grass war, wie er selbst sagte, auch gekommen, die Fahne des demokratischen Sozialismus hochzuhalten. „Jahrzehntelang hat hier eine kommunistische Einheitspartei die polnischen Sozialdemkraten und Sozialisten unterdrückt und den Begriff Sozialismus korrumpiert. Jetzt kommt es darauf an, zu zeigen, daß es einen anderen, einen demokratischen Sozialismus immer gegeben hat, im Untergrund.“ Ob er nicht der Ansicht sei, suggerierte ein Zuhörer, nach den polnischen Erfahrungen mit Sozialismus solle man das Wort erst mal vergessen. Für die Bevölkerung sei das Wort einfach zu belastet und korrumpiert. Grass beharrte: „Das, was die Kommunisten hier gemacht haben, hat mit Sozialismus nichts zu tun.“ Jan Jozef Lipskii brachte es auf den Punkt: „Nehmen wir einmal an“, lächelte er, „Sie sind ein gläubiger Mensch und ich komme zu Ihnen ins Haus und erkläre Ihnen, ich sei der liebe Gott. Worauf ich Sie verprügle, ausraube und in den Keller sperre. Wenn Sie aufgrund dieses Ereignisses zum Atheisten werden, könnte ich Ihnen wohl zu Recht vorwerfen, voreilig zu handeln.“
Grass warnte davor, westliche Kapitalhilfe allzusehr zu idealisieren: „Es besteht die Gefahr, daß Polen abhängig wird von westlichen, auch westdeutschen Kapitalisten.“ Wenn er sich über die Gefahren des Kapitalismus, liberaler Wirtschaftspolitik und Joint-ventures ausließ, klang es für die polnischen Zuhörer, als zitiere er aus der 'Trybuna Ludu‘ oder einem Pamphlet der kommunistischen Gewerkschaften OPZZ. Doch schon im nächsten Satz sorgte er dafür, daß sich seine Äußerungen zum Zitieren in diesen Organen nicht allzusehr eigneten: Wenn er über die PVAP sprach, klang es, als zitiere er aus dem 'Bayernkurier‘: „Die Kommunisten haben dieses Land nämlich nicht nur wirtschaftlich zugrunde gerichtet, sondern auch ideologisch.“ So wundert es auch nicht, daß die 'Trybuna Ludu‘ unter dem Titel Eine Lektion gesunden Menschenverstandes vor allem Grass‘ Warnungen vor freier Marktwirtschaft und seine Kritik an Walesa zitierte.
Im 'Tygodnik Gdanski‘, dem Danziger Blatt von Solidarnosc, erschienen dagegen seine Solidaritätserklärungen für die unabhängige Gewerkschaft und die PPS, deren Vorsitzender Jan Jozef Lipski auch an der Diskussion mit Studenten teilnahm. Vor einigen Jahren hatte Grass bei einem Besuch seiner Geburtstadt Danzig Polen mit Nicaragua verglichen. Da für Polens Opposition die Sandinisten zumeist nur ein von den Sowjets ferngesteuertes Marionettensystem sind, erhob sich ein Proteststurm in Polens Untergrundpresse. Vom polnischen Radio darauf angesprochen, hielt er an seinem Vergleich fest: „Hier wie da gibt es eine starke, auch von katholischen Elementen getragene Volksbewegung gegen eine Diktatur.“ Auch sonst dürfte die Grass'sche Politikmischung bei den Solidarnosc-Anhängern im Saal eher gemischte Gefühle hinterlassen haben: „Ich habe mit großer Verwunderung gesehen, wie Danziger Arbeiter Margaret Thatcher zugejubelt haben. Weiß man hier denn nicht, daß diese Frau in acht Jahren die sozialen Errungenschaften der englischen Gewerkschaftsbewegung zugrunde gerichtet hat, daß sie eine Politik betreibt, die zu Arbeitslosigkeit und Massenarmut geführt hat? Mir scheint, das ist kein Beispiel, das polnische Arbeiter zu bejubeln Grund hätten.“ Auf die Frage eines Solidarnosc-Redakteurs, ob Arbeitslosigkeit nicht auch ein geeignetes Mittel zur Verbesserung des Arbeitswillens sein könne, anwortete Grass empört: „Ich halte eine solche Argumentation für zynisch.“
Bei jedem anderen bundesdeutschen Sozialdemokraten hätten die Solidarnosc-Sympathisanten im Saal wohl abgewinkt: Ein Beweis mehr für die Kommunistenfreundlichkeit der SPD. Bekanntlich hat Solidarnosc die westdeutschen Sozialdemokraten nicht in allerbester Erinnerung. Doch Grass traf sich schon mit Walesa, als dieser noch private „persona non grata“ bei den kommunistischen Gesprächspartnern angereister SPD- Funktionäre war, er protestierte 1983 gegen Engelmanns Grußtelegramm an den neugegründeten regimefreundlichen polnischen Schriftstellerverband, der die vorherige Auflösung des alten Verbandes verschleiern sollte. Grass heute darüber: „Da es sich um Schriftsteller handelt, muß ich wohl sagen, das war einfach Dummheit.“ Anders als selbst Johannes Rau, der bei seinem jüngsten Besuch noch Kontakte mit oppositionellen Sozialdemokraten als „Destabilisierung“ abgelehnt hatte, ließ sich Grass seine Solidarität mit KOR, Lipski und Solidarnosc nicht durch entspannungspolitische Rücksichtnahmen ausreden. 1985 verweigerte ihm die polnische Regierung auch prompt das Einreisevisum.
Daß er sich mit seinen Ansichten zwischen alle polnischen Stühle setzt, hat seinem Image in Danzig keinen Abbruch getan, im Gegenteil: In Polen und ganz besonders in Danzig ist Grass der bekannteste deutschsprachige Schriftsteller. Als Ende der siebziger Jahre die ersten Untergrundverlage entstanden, war eines der ersten Bücher, das sie herausgaben, die vollständige Übersetzung von Grass Blechtrommel. Legal konnte das Buch lange nicht vollständig erscheinen, die Zensur hielt besonders die Stellen über das Verhalten der Roten Armee in Polen und über die Vertreibung der Deutschen aus Polen nicht für druckreif. Gerade in Danzig ist das Buch dennoch bekannt wie kaum ein anderes, nicht zuletzt wegen der farbigen Darstellung der Verteidigung der Danziger Post. Das Ereignis - die polnischen Postbeamten hielten 14 Stunden lang dem Ansturm der deutschen Angreifer stand, bis sie sich nach dem Versprechen, als Kriegsgefangene behandelt zu werden, ergaben. Erschossen wurden sie dann trotzdem.
Die Darstellung der Postverteidigung hat Grass von überlebenden Zeugen erzählt bekommen, die er 1958 ausfindig machte. Eine Danziger Untergrundzeitung der PPS bezeichnete denn die entsprechenden Kapitel als die „gelungenste Darstellung der Verteidigung der Danziger Post in der Literatur, die polnische eingeschlossen“. Nach wie vor ist dieses Ereignis in Polen nämlich fast genauso emotional vorbelastet wie die Verteidigung der Westerplatte. Viele der Zuhörer brachten ihr Exemplar der Blechtrommel anschließend zum Signieren, alte zerfledderte, zerlesene, teilweise vergilbte Bände wurden Grass vor die Nase gehalten, darunter sogar deutschsprachige Exemplare. Der Saal war voll, mehrere hundert Danziger hatten den Weg nach Sopot gefunden, wo die Diskussion stattfand. Eine solche Resonanz erreichen oft nicht einmal bekannte polnische Schriftsteller.
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