: „Das Wunder der Versöhnung“
■ Bundeskanzler setzte Polenreise fort / Kohl und Mazowiecki bei Messe in Kreisau / „Deutsche Freundschaftskreise“ und Blaskapelle / Kanzler Kohl mußte sechs Stunden lang mit dem Bus fahren
Kreisau/Berlin (dpa/ap/afp/taz) Von seinem Debakel bei der Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus nach Polen zurückgekehrt, nahm Bundeskanzler Kohl gestern morgen zusammen mit Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki im niederschlesischen Kreisau an einer zweisprachigen Messe unter freiem Himmel teil. Sie war als Ersatz für seinen Affront, den Annaberg besuchen zu wollen, ausgehandelt worden. Dort hatten deutsche Freikorps polnische Widerständler im Jahre 1921 blutig geschlagen. Die kleine Rache der Geschichte: Da dichter Nebel herrschte, mußte Kohl von Warschau aus in mehr als sechs Stunden die 400 Kilometer nach Niederschlesien mit dem Bus fahren.
Auf der auch im polnischen Fernsehen übertragenen Messe mischte sich deutsche Geschichte auf das seltsamste. Sie fand auf dem ehemaligen Gut des Grafen Helmut James von Moltke statt, wo sich der „Kreisauer Kreis“ von Widerstandskämpfern gegen das Naziregime getroffen hatte. Und wurde eingerahmt von den Spruchbändern der Vertreter der deutschen Minderheit in Polen: „Helmut, du bist auch unser Kanzler!“, „Wir Schlesier fordern unser Recht“, „Wir hoffen seit 45 Jahren“. Die Deutschstämmigen forderten unter anderem deutsche Schulen und Gottesdienste und verlangten in Sprechchören: „Helmut, denk an uns“. Die Mitglieder der offiziell nicht zugelassenen „Deutschen Freundschaftskreise“ warteten auch mit einer Blaskapelle auf.
Das Motto der Messe, an der insgesamt einige tausend Menschen teilnahmen, hätte durchaus Appellcharakter für Kohl haben können: „Selig, die Frieden stiften“. Nach den Begrüßungsworten des Ortspfarrers wurden der polnische und der deutsche Regierungschef mit Brot, Salz und Blumen beschenkt. Der Bischof von Oppeln, Alfons Nossol, zelebrierte die Messe und sprach davon, es müsse sich jetzt das „Wunder der wahren Versöhnung zwischen den so lange verfeindeten Völkern“ vollziehen. Kohl und Mazowiecki, nebeneinander auf der Altarempore sitzend, tauschten vor der Kommunion mit einer Umarmung den christlichen Friedensgruß aus.
Dieser gegenseitige Gruß der Versöhnung, versicherte nach dem Gottesdienst Kohl als Abkömmling der Täter, die den Opfern verzeihen, dürfe „nicht ohne Folgen bleiben“. Jeder habe gespürt, „daß dies ein wichtiger Augenblick im Leben unserer Völker ist. Wir haben die Geschichte gespürt. Sie war da - gerade auf diesem Platz mitten in Europa.“ Helmut Kohl beschloß sein Sonntagsprogramm mit einem Besuch des Marienwallfahrtsortes Tschenstochau und einem Gespräch mit Staatspräsident Wojciech Jaruzelski. Sein Besuch soll noch bis Dienstag dauern.
Währenddessen haben beide Regierungsdelegationen insgesamt elf neue Abkommen und Vereinbarungen ausgehandelt. So soll ein Investitionsschutzabkommen die Voraussetzungen für deutsche Investitionen in Polen schaffen. Die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit soll im Rahmen eines Abkommens zwischen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der polnischer Akademie der Wissenschaften gefördert werden. Das erste Arbeitsprogramm umfaßt 40 gemeinsame Projekte, unter anderem bei der Reaktorsicherheit.
usche.
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