„Demontage des Unsinns von Jalta“

Der Historiker Jurij Affanassjew hofft, daß das Loch in der Mauer den Beginn einer offenen Welt markiert Grenzen als Begegnungslinien, an denen verschiedene Zivilisationen und Kulturen aufeinander einwirken  ■ I N T E R V I E W

Jurij Nikolajewitsch Affanassjew, Institutsdirektor und Historiker, ist Vorstandsmitglied der „Überregionalen Deputiertengruppe“, in der sich Abgeordnete des Obersten Sowjet zusammengeschlossen haben, um schnellere und radikalere Reformen im Rahmen der Perestroika durchzusetzen. Affanassjews Name wird zur Zeit in Moskau in der Diskussion über die künftige Führung der Opposition häufig genannt.

taz: Nun ist also passiert, wovor die DDR-Führung so viele Jahre Angst hatte. Die Leute gehen auf der Mauer spazieren offenbar mit Billigung der Sowjetunion. Könnte es sein, daß die Errichtung dieses Bauwerks seinerzeit eine rein innere Angelegenheit der DDR war?

Jurij Nikolajewitsch Affanassjew: Selbstverständlich konnte dies nicht ohne Einverständnis der Sowjetunion geschehen. Die Mauer ist ja die Folge davon, daß man einem anderen Volk ein bestimmtes Gesellschaftssystem aufzwingen wollte. Und wenn man die daran beteiligten Länder betrachtet, ist die Mauer gewiß eine kollektive Schöpfung. Für ihre Hauptquellen halte ich aber einerseits unsere Variante des Sozialismus, andererseits die Sicht der Welt von Jalta her.

Glauben Sie, daß aus dem Loch in der Mauer eines Tages die Tür zu einem gemeinsamen europäischen Hauses werden könnte?

Davon bin ich völlig überzeugt. Ich war kürzlich in Japan und habe dort gesagt, daß die Epoche von Jalta beinahe schon ihr Ende erreicht hat. Es gibt aber noch Kräfte, und zwar nicht nur bei uns in der Sowjetunion, sondern auch in Westeuropa, die diesen Bogen von Jalta in die Zukunft hinüberretten möchten, der sich an einem Ende auf die Berliner Mauer und am anderen auf die Südkurilen stützte. Das europäische Haus setzt die Demontage dieses Jaltaschen Unsinns voraus. Und ich möchte sehr hoffen, daß die Lücke in der Mauer der Beginn einer Bewegung zu einer offenen Welt bildet, in der die Grenzen nur noch Begegnungslinien sind, an denen verschiedene Kulturen und Zivilisationen aufeinander einwirken und in der es keiner umgepflügten Streifen oder Stacheldrähte mehr bedarf.

Bei uns gib es Kräfte, die wollen sogar noch hinter Jalta zurück und am liebsten gleich Deutschland wiedervereinigen.

Im Prinzip stehe ich der Idee eines vereinten Deutschlands natürlich positiv gegenüber. Allerdings ist das eine Frage, die die Deutschen im Osten wie im Westen selbst und unter sich lösen müssen. Aber sie werden mir sicher zustimmen, daß diese Zerstückelung eines Landes ganz unnatürlich ist, sie wirkt wie eine ständig blutende Wunde auf dem Körper der Menschheit, und deshalb muß man sie natürlich liquidieren. Es fällt schwer, sich langfristig die Existenz zweier Deutschlands vorzustellen. Wenn die Menschen fähig sind, sich zum Besseren hin zu bewegen, dann halte ich ein einiges Deutschland für dieses Bessere.

Welchen Gewinn könnte Europa bis dahin aus der Öffnung der Mauer ziehen?

Ich hatte mich gerade vor drei Monaten ans Prophezeien gemacht und gesagt, daß ich der Mauer höchstens noch zwei Jahre geben würde. Wie Sie sehen, habe ich mich grob getäuscht. Die Ereignisse in Deutschland entwickeln sich ja jetzt sehr stürmisch und übertreffen an Geschwindigkeit alles, was bisher bei uns in der Sowjetunion, in Ungarn und in Polen geschehen ist. Diesen Umstand allerdings konnte man nun wirklich voraussagen, und ich habe dies auch getan. Denn der Schmerz reichte doch in der DDR besonders tief.

Zu dem großen Schmerz, den dieses Land mit Polen oder Ungarn teilt, kam noch die spezifisch nationale Kränkung hinzu. Die Menschen haben ja die ganze Zeit gesehen und verstanden, was mit ihnen geschah. Sie hatten nur keine Möglichkeit, sich zu erheben, und als diese Möglichkeit dann kam, überschlugen sich die Ereignisse schon nicht mehr in Tagen, sondern in Stunden. Der Weg, den die DDR jetzt beschreitet, führt zur Demokratie. Und wenn die Ereignisse sich weiterhin so entwickeln wie bisher, dann kann man natürlich nicht erst in Jahrzehnten, sondern schon in Jahren entscheidende weitere Einzelschritte in Richtung auf eine deutsche Einheit erwarten.

Interview: Barbara Kerneck