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Jubel und Sorge im Westen

■ Weltweit ist die Öffnung der DDR-Grenzen das Thema Nummer eins / US-Verteidigungsministerium bereitet neue Osteuropa-Strategie vor / Eine deutsche Wiedervereinigung wird fast überall als bedrohlich betrachtet

Berlin (ap/afp/dpa/taz) - Der Jubel über die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze und die Furcht vor einer neuen deutschen Supermacht mit zahlreichen großen Unbekannten halten sich in diesen Tagen in den Ländern des Westens die Waage. Deutlich wird aus den Reaktionen auch, daß niemand auf eine derart rasante Entwicklung vorbereitet war. Und ohne Unterschied werden Berlin und der Mauer große Aufmerksamkeit gewidmet.

In Frankreich wurde die Öffnung der innerdeutschen Grenze von Politikern aller Parteien als historisches Ereignis und Ende der Nachkriegsära begrüßt. Der sozialistische Premierminister Michl Rocard sagte: „Wenn die Mauer fällt, wird es keinen Krieg mehr geben.“ Rundfunk und Fernsehen brachten Sondersendungen aus Berlin, die Zeitungen machten Sonderseiten mit Vorort-Reportagen. „Zutiefst erfreut“ über den Wandel in der DDR zeigte sich auch KP-Chef Marchais. Der französische Wendehals behauptete, daß seine Partei bereits seit über 15 Jahren die sozialistischen Staaten zu „tiefgreifenden Reformen“ aufrufe.

Zwar ergab die Blitzumfrage des Privatsenders La Cinq, daß 76 Prozent der Zuschauer die Maueröffnung als „wichtigstes Ereignis seit Kriegsende“ betrachten, doch zugleich wächst die Sorge über die Perspektiven für Europa, die ein möglicherweise wiedervereinigtes Deutschland mit 80 Millionen Menschen nahelegt. Der gaullistische französische Politiker und Schriftsteller Alain Peyrefitte schrieb in der Pariser Zeitung 'Le Monde‘: „Die Beziehungen mit Deutschland sind seit Anfang des Jahrhunderts ein großes Problem. Die zwei Deutschlands, geteilt zwischen Nato und Europäischer Gemeinschaft auf der einen und Warschauer Pakt auf der anderen Seite lieferten eine Lösung dieses Problems. Das ist jetzt alles in Frage gestellt.“ Im bürgerlichen politischen Lager wurde angesichts einer möglichen deutschen Wiedervereinigung die Notwendigkeit betont, die Europäische Gemeinschaft zu stärken. Aus politischen Kreisen verlautete, daß Frankreich die Entwicklung in Deutschland in den Mittelpunkt des im Dezember in Straßburg stattfindenden europäischen Gipfels stellen werde.

Die USA begrüßen zwar die Öffnung, mahnen jedoch laut und deutlich zur „Vorsicht gegenüber Osteuropa“. Nach Ansicht von Verteidigungsminister Richard Cheney muß jetzt eine angemessene Strategie gegenüber diesen Veränderungen entwickelt werden, die der Westen erst zu „verdauen“ habe. Der Minister deutete an, daß die Nato-Doktrin modifiziert werden könnte. Wenn nicht-kommunistische Regierungen in Osteuropa an die Macht kämen, sei wahrscheinlich, daß sie eine geringere militärische Bedrohung als in der Vergangenheit bedeuteten, „und das würde offensichtlich Veränderungen auf unserer Seite implizieren“. Bei derselben Gelegenheit - einem Besuch auf dem schwersten Kriegsschiff der amerikanischen Marine - rühmte Cheney die USA für ihre Verdienste um die Veränderungen in Osteuropa, die „dank der militärischen Macht der USA möglich geworden sind“.

In Großbritannien hat die Öffnung nach Meinung der Zeitung 'The Independent‘ „Beklemmung und Euphorie“ ausgelöst. Die alte Sicherheit der Kursbestimmung sei verschwunden, jetzt lauerten möglicherweise „unbekannte Riffe unter dem neuen Ozean“.

Seit Sonntag können DDR-Bürger auch mit der Fähre nach Dänemark reisen. Nach 'adn'-Angaben nutzten am Samstag bereits 150 Passagiere die neue Fährlinie zwischen Warnemünde und Gedser. In Dänemark können sich DDR-Bürger ohne Einreisevisum 72 Stunden aufhalten.

Seltsam reagierte Schweden auf die neue Reisefreiheit in der DDR: 20 DDR-Bürger, die mit einer Fähre aus Saßnitz in die südschwedische Stadt Trelleborg gekommen waren, wurde die Einreise verwehrt. Keiner von ihnen hätte Pässe oder Visa besessen, lautete die offizielle Begründung des schwedischen Zolls. Die Reisenden aus der DDR erklärten, keiner von ihnen wolle als Flüchtling in Schweden bleiben.

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