: Berlin - eine wahrlich atemberaubende Stadt
West-Berlin quillt über / Massendemonstration von DDR-Bürgern in den Kauhäusern des Westens / Auf der Suche nach Kolabüchsen und „Fruchtzwergen“ / Verkehrskollaps auf allen Wegen / Erster Unmut über Trabi-Gestank / Rock auf der Mauer - Stau in der U-Bahn ■ Von Vera Gaserow
Die Mauer vorm Brandenburger Tor gleicht einer nächtlichen Diskotanzfläche mit Tausenden von Gästen, der Kurfürstendamm ist eine einzige Füßgängerzone, die Verkaufspassagen des Europacenters geben ein improvisiertes Nachtlager für Hunderte her. An den Grenzübergängen kommt man nicht mehr nach beim Begrüßen der Besucher von drüben. Das Konfetti ist schon lange ausgegangen, und in der Innenstadt gibt es „wie im Osten“ keine Bananen mehr.
Radio DDR meldet die „zweihundertprozentige Auslastung der Züge nach Helmstedt“ und die Abfahrt eines Sonderzuges aus Leipzig Richtung Berlin. Der Verkehrsfunk-West konstatiert resigniert „stehenden Fußgängerverkehr auf dem Tauentzien“. In der Einkaufszone Wilmersdorfer Straße gibt es kein Brot mehr zu kaufen, bei Karstadt am Hermannplatz geht beinahe viertelstündlich eine kleine Nicole, Daniela oder Sylvia verloren „und soll bitte sofort von ihrer Mutti“ abgeholt werden. Fuß- und Fahrradwege der Stadt sind übersät von Sektflaschen und Kolabüchsen, die nun Coca heißen.
Wer auch immer will, bearbeitet die Mauer mit Hammer und Meißel, als ob sie vor allem „dem Westen“ gehöre. Ein Souvenir muß her, den Freunden und Eltern in Westdeutschland längst versprochen. Auch von Osten her wird die Mauer in Eigenarbeit abgerissen. Fünf Meter neben dem offiziellen Abrißkommando der Grenzpolizei haben sich am Prenzlauer Berg DDR-Bürger mit kleinen Hämmern am „antifaschistischen Schutzwall“ zu schaffen gemacht. Unter dem Beifall der Umstehenden feiern sie hier ihr Fest, konkurrieren mit dem offiziellen Bautrupp, wer wohl schneller sei.
Deutsch-deutsche Sicherheit feiert ihre Premiere: Zur Eindämmung des „Mauervandalismus“ von Skinheads und „heimattreuen“ Pfadfindern treffen sich erstmals die Polizeipräsidenten aus Ost und West. Auf dem Todesstreifen hinter der Mauer, wo sich jahrelang nur die Karnickel hintrauten, spielen Kinder pausenlos „Wiedersehen“ und fallen sich in die Arme. An der Imbißbude hat sich ein DDR -Bürger so dick mit Currywurst und Pommes eingedeckt, daß er zu spät feststellt, daß er keine Hand mehr zum Essen frei hat.
Ein älteres Ehepaar sucht mit einem Stadtplan von 1920 erste Orientierung. Über den Grenzübergang Invalidenstraße werden die ersten Waschmaschinen Richtung Osten geschoben, und im „Cafe Möhring“ drängt ein Familienvater seine Frau: „Los, geh aufs Klo, auch wenn de gar nicht mußt, die Klos mußte einfach gesehn haben!“
Berlin an diesem Wochende - ein Endlosfilm mit tausend Einzelszenen und zwei Millionen Darstellern. Niemand zählt mehr die Einreisenden, die an den Grenzübergängen nur noch kurz ihren blauen Ausweis hochhalten. Ob 500.000, ob eine Million: was soll's, die Stadt ist voll und hört nicht auf, zwischen den Grenzen hin- und herzuwandern.
In der Innenstadt ist der Autoverkehr zusammengebrochen, die U-Bahn hoffnungslos heißgelaufen. Wegen Überfüllung und Unfallgefahr müssen einige Linien eingestellt werden, und an ein Taxi ist kaum zu denken, auch wenn sich an den Rufsäulen wie selbstverständlich Chauffeure mit DDR-Kennzeichen eingereiht haben. Das einzig zuverlässige Verkehrsmittel ist das Fahrrad, nur daß die Luft zum Ersticken ist.
Überall dort, wo eine Menschenmenge gesichtet wird, befindet sich ganz sicher eine Sparkasse. Die ersten haben sich hier nachts um zehn angestellt, um morgens um neun ihre hundert D-Mark Begrüßungsgeld in Empfang zu nehmen. Mehrere hundert Meter lang sind die Schlangen, ringeln sich gleich mehrfach um Plätze und Straßenkreuzungen. Diese „Schlangenarbeit“ gewohnt, harren die DDR-BürgerInnen geduldig aus - kein Murren, kein Vordrängeln. Pflichtbewußt wird jedes im Paß eingetragene Kind dem Schalterbediensteten vorgezeigt, damit auch alles seine Richtigkeit hat beim Bezug des Geldes. Mittendrin in der Schlange, die fast schon unvermeidliche Westberliner Rentnerin, die sich ausgerechnet an diesem Tag ihres Kontostands vergewissern muß.
Ob der hundert D-Mark Begrüßungsgeld - an diesem Wochenende millionenfach ausgezahlt - schlägt die Stunde des Einzelhandels. Der kleinste Second-hand-Laden wittert seine Chance. Als gelte es, Verhungernde vor dem Tode zu retten, öffnen etliche Kaufhäuser auch am Sonntag ihre Tore für die Besucher aus der DDR und ihre Kassen für das frischgedruckte Geld. Es gibt kein Geschäft, das nicht dichte Menschentrauben anzieht. Video- und HiFi-Läden stehen auf der Hitliste ganz oben an, aber gekauft werden vor allem Lebensmittel.
„Ne echte Coca zu trinken“ gehört zum Westbesuch dazu, wenn man nur wüßte, wie diese verdammte Büchse aufgeht. Einige Supermarktregale sehen aus wie nach einer langandauernden Versorgungskrise, Süßigkeiten sind Mangelware, und beinah schon flehentlich fragt eine Frau: „Wo gips denn hier de Fruchtzwersche?“
Vor den Gemüseständen bekommen Kinder Nachhilfeunterricht in exotischen Südfrüchten, am Ende bleiben nur noch Kohlköpfe in den Regalen liegen. Kebab-Buden und Pizzerien feiern Hochkonjunktur, bei den Zeitungskiosken steigt der Umsatz von Pornoheften. Viele jedoch überlegen sehr gut, wofür sie den kostbaren Hunderter ausgeben. Die meisten sind erschlagen von dem verwirrenden Angebot um sie herum, und wenn abends die Trabi-Welle wieder Richtung Ost-Berlin rollt, sieht man nicht nur viele erschöpfte, sondern auch viele nachdenkliche Gesichter.
Ganz findige Westberliner eröffnen den Handel auch in die entgegengesetzte Richtung: Am Potsdamer Platz wirbt ein Mini -Cooper mit der aufgesprühten Offerte: „Suche Antiquitäten aus der DDR: Tel...“. Auch der Tausch „West-Auto gegen Ost -Datscha“ ist im Gespräch.
Berlin an diesem Wochenende - eine Stadt, in der jede Stunde Schlaf ein verpaßtes Erlebnis ist. Irgendwann jedoch muß wieder ein Stück Normalität einziehen, muß die Stadt wieder Luft holen können, damit die jetzt noch euphorische Feiertagsstimmung nicht in ein explosives Gemisch umschlägt. Schon jetzt grummelt der Unmut an vielen Ecken, und die ersten trauen sich, ihn öffentlich zu machen: „Momper, denk an unsere Kinder. Sie ersticken!“ trotzt ein Balkontransparent gegen den Trabi-Gestank an. Fahrverbot für PKWs, Einreisesperre für die Zweitakter heißen die Forderungen nicht nur an Kneipentischen.
Die Öffnung der neuen Grenzübergänge bringt für viele Westberliner zwar die plötzliche Offenbarung über Grünzonen im Ostteil der Stadt. „Mensch, da drüben ist ja der Treptower Park, können wir ja morgen rübergehen und 'ne Fahrradtour machen“, dämmert es einem Kreuzberger Freak am Übergang Schlesische Straße. Dennoch bleibt das Gefühl von Eingeschlossensein, und die Platzangst wird noch verstärkt durch die Gewißheit, daß es derzeit keine Fluchtwege gibt ohne stundenlange Staus. Wohl dem, der schon ein Flugticket nach Westdeutschland in der Tasche hat.
Besonders bei den Jüngeren, die nicht mehr nachvollziehen können, was diese Tage historisch bedeuten, wächst auch der Neid auf „die Ossies“: „Ich muß 2 Mark 70 zahlen im Bus, und die zeigen einfach ihren blauen Paß hoch!“ „Überall kommen sie umsonst hin, zum Fußball, ins Theater, is‘ doch ungerecht.“ Ärger auch über das Begrüßungsgeld: „Wer soll denn das bezahlen, is doch alles unser Geld!“ Nicht mehr lange, so die Befürchtung im Bekanntenkreis, dann schlägt die Stimmung um. Den DDR-Besuchern, die durch die Stadt schwärmen, ist dieses Problem durchaus bewußt. Zurückhaltend und höflich bemühen sie sich, nichts falsch zu machen, niemandem zur Last zur fallen. „Ist doch auch nicht schön für euch“, meint entschuldigend eine Frau in der U-Bahn, „nein, das kann auch nicht so weitergehen“.
Am liebsten würden sie nicht auffallen, diese Menschenmassen, aber wie macht man eine Million Menschen unsichtbar? Wie eine Normalisierung dieser im wahrsten Sinne atemberaubenden Situation aussehen wird, entzieht sich im Moment jeder Phantasie. Nur auf einen gemeinsamen Nenner können sich schon jetzt alle verständigen: Wenn dieser Berliner Endlosfilm einmal ein Ende findet, wird nichts mehr sein wie zuvor.
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