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Freude und etwas Neid

Die Tschechen und die Deutschen  ■ G A S T K O M M E N T A R

Ich habe nichts analysiert und keine politischen Folgen bedacht. Ich saß einfach vor dem Fernseher, sah die Übertragungen der Österreicher aus Berlin und war glücklich. Ein Volk nach so vielen Jahren seine Freiheit genießen zu sehen! Sie schienen mir trunken vor Freude, und ich gestehe, etwas neidisch war ich schon auf diese Deutschen aus der DDR. Vor 21 Jahren hatten wir auch bei uns einen solchen Ausbruch der Gefühle, aber würden wir nach 20 Jahren der Apathie noch in der Lage sein, eine solche Stunde so zu feiern? Was mir wichtig war: Es ging nicht darum, 100 DM zugesteckt zu bekommen, es ging um die Freiheit. Frei zu leben, zu denken, zu singen, herumzugehen. Jetzt sagen unsere Tschechen und Slowaken: Schade, wir werden die letzten sein. Ich selbst habe in meinen Arbeiten oft genug den Deutschen der DDR diese Rolle zugedacht. Es zeigt sich, daß die Analyse der Rahmenbedingungen, der vorgeblichen Zwänge etc. dieser Emotionalität in der Geschichte nicht gerecht werden kann.

Erinnern wir uns, daß die weggefegte DDR-Führung zu den engstirnigsten Kritikern des Prager Frühlings gehört hatte und zu den zuverlässigsten Stützen der „Normalisierung“. SED und KPC dachten in der gleichen Sprache. Der Sturz Honeckers traf unsere Herrscher unvorbereitet wie ein Schock. Hatten sie doch die Hoffnung nicht aufgegeben, in der Sowjetunion würden schließlich die Gegner der Reform triumphieren. In nur einer Woche hat sich der Tonfall unserer Normalisierer verändert, ihre Rede hat jede Selbstsicherheit verloren. Sie spüren, daß ihre Zeit bemessen ist, vielleicht nur noch auf ein paar Monate.

Milan Simecka

Milan Simecka, tschechischer Philosoph und Essayist, lebt in Bratislava; er ist Mitbegründer der Charta77.

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