: „Menschen zweiter Klasse“
■ Vietnamesische Flüchtlinge in der DDR als Arbeitskräfte angeheuert Rund 60.000 Vietnamesen leben drüben als Arbeitsemigranten
Aus der Vogelperspektive präsentiert sich eine gigantische Bienenwabe - Messehalle 1 am Funkturm: Wo sich sonst die Massen mit vollen Taschen zwischen Freßständen der „Grünen Woche“ hindurchwälzen oder während der Funkausstellung aus allen Ecken bedudelt werden, stehen Holzquader, weiß tapeziert, ordentlich aufgereiht wie Autogaragen - nur das Dach fehlt. Über 200 ÜbersiedlerInnen sind hier in Vierbettkammern aufgeteilt. Wer auf dem Bett liegt, hat zwar nicht den Westhimmel, aber immerhin das Deckengerüst der Halle vor Augen.
Seit vorgestern ist die Unterbringung bikulturell - über hundert Vietnamesen aus der DDR sind eingetroffen. Vor zwei Tagen wurden sie im Menschengedränge über den Grenzübergang Sonnenallee nach West-Berlin einfach durchgewunken. Im Gegensatz zu den Millionen anderen Kurz- oder Dauergästen der letzten Tage gab es für Nguyen und die anderen weder Begrüßungs- noch Überbrückungsgeld. Die meisten irrten erst einmal ein paar Stunden ziellos durch die Stadt, bis sie zufällig auf ein paar Landsleute trafen, die schon länger in West-Berlin leben. Die zeigten ihnen den Weg nach Marienfelde, von dort wurden sie in die Notunterkünfte in der Messehalle eingewiesen.
Auf 60.000 wird die Zahl der Vietnamesen geschätzt, die aufgrund eines Abkommens zwischen den Regierungen in Hanoi und Ost-Berlin als Arbeitskräfte in die DDR gekommen sind. Gedacht ist das Programm - so Phan Phuc Vinh, Leiter des „Vietnamhauses“, einer Beratungsstelle für Vietnamesen in West-Berlin - unter anderem für ehemalige Soldaten, die nach ihrer Entlassung aus der Armee arbeitslos in den Heimatdörfern herumsaßen. Sie verpflichten sich für mehrere Jahre als Arbeitskräfte in der DDR - nicht zuletzt als eine Form der Wiedergutmachung für Ostberliner Hilfe an Vietnam während des Krieges. Nguyen hat in einer Schuhfabrik in Ost -Berlin gearbeitet. Aussuchen durfte er sich seinen Job nicht. Auch der Lohn von 550 Mark habe deutlich unter dem Durchschnitt gelegen. „Wir sind da Menschen zweiter Klasse“, sagt er. Seinen Paß mußte er wie alle anderen schon bei der Einreise vor zweieinhalb Jahren abgeben. Reisen - auch in Ostblockstaaten - waren tabu. Für Fahrten innerhalb der DDR habe man eine Genehmigung einholen müssen. Strenggenommen hätte Nguyen noch nicht einmal von der Öffnung der Mauer profitieren können. Auf dieses Problem ist nun auch die Ausländerbeauftragte Barbara John aufmerksam geworden. „Natürlich müssen auch Ausländer in der DDR herüberkommen dürfen.“ Im allgemeinen Begrüßungstaumel hat sie bislang noch keiner so recht wahrgenommen. Dabei wollen sie nichts anderes als ihre Mitbewohner in der Messehalle auch: „In Freiheit leben.“ Was die wiederum überhaupt nicht nachvollziehen wollen. „Was suchen die denn hier“, sagt einer. „Die kriegen drüben doch alles hinten reingeschoben.“
anb
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