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Vom Konsum-Rausch zum Nachdenken

■ Viele bewahren ihren Begrüßungshunderter auf / Zur Reisefreudigkeit gesellen sich Angst vor Drogen, Aids und anderen Sozialschäden des Westens / Nur die Wirtin vom Goldenen Stern verbucht ungeahntes Umsatzplus / Ihre Kneipe liegt neben der Visastelle

Ost-Berlin (dpa) - Euphorie ist in der Kleinstadt Bernau bei Ost-Berlin nicht ausgebrochen. Auch wenn sich zum historischen Wiedersehens-Wochenende fast alle der rund 20.000 Einwohner auf den Weg in den „goldenen“ Westteil Berlins aufmachten, ist inzwischen der Alltag wieder eingekehrt. Mit einem Unterschied: Das sonst verschlafene Bernau hat endlich ein Gesprächsthema - die Stippvisiten im Westen.

Die Nachricht von der Öffnung der Grenzen hat auch in Bernau wie ein Blitz eingeschlagen. Noch in derselben Nacht fuhren Jugendliche mit der letzten S-Bahn der Sensation entgegen. Die Älteren reagierten langsamer und planten den ersten Westbesuch als Familienausflug am Wochenende. Nach wenig Schlaf und ausgelaugt vom West-Taumel sitzen sie nun beim Bier für 50 Pfennig-Ost und tauschen Preiserfahrungen und Infos über Sonderangebote aus. Konserven-Ananas rangieren an der Spitze, weil es im Bernauer „Südfrüchte„ -Laden nur Kohlrüben und Weißkraut gibt. Groß ist aber auch die Zahl der DDR-Bürger, die ihren „Begrüßungs-Hunderter“ erstmal nach Hause geschafft haben. Gleich kaufen, das wollen die wenigsten. Eher einteilen, jedesmal nur eine Kleinigkeit mitnehmen.

Die jungen Bernauer reagierten anders auf die überraschende Möglichkeit zum Westkonsum: Kassettenrecorder, Walkman und Autoradios brachten sie mit, „im Januar gibts ja wieder 100 Westmark“. Am wichtigsten allerdings: Endlich raus aus der öden Provinz, in der außer einem Jugendclub und einem Kino nichts geboten wird.

Schnell ist bei den Gesprächen klar geworden, daß die DDR -Heimat so schlecht gar nicht ist. Ein Taxifahrer erzählt entsetzt von seinen Beobachtungen am Bahnhof Zoo, wo sich junge DDR-Bürger zum Abschied noch eine Bockwurst „leisteten“: Zum offiziellen Umtauschkurs, für 20 Mark Ost. „Dafür hätten die bei uns mehr Wiener bekommen, als sie hätten aufessen können“.

Die Reise in den Westen, damit ist eine Bernauer Wirtin zufrieden. „Drüben“ leben will sie nicht. Als Kind bereits kannte sie die Bezirke Wedding und Neukölln, zum Wiedersehen sagt sie: „Ich bin enttäuscht“. Zu viele Türken, Graffitis an den Häuserwänden und Neonazi-Sprüche, nein danke.

Durch die Öffnung der Grenzen, so befürchtet nicht nur die 48jährige, könnten sich bald „schlechte Einflüsse“ aus dem Westen in die DDR „einschleichen“. Drogenprobleme, Aids und Kriminalität - schon jetzt geht Angst um. Noch größer ist die Panik vor den wirtschaftlichen Folgen der millionenfachen Grenzüberschreitungen. Viele fürchten die Entwertung ihrer Sparkonten aufgrund einer Währungsreform, andere rüsten sich auf den Run auf die Westmark. Groß ist die Angst, daß clevere DDR-Bürger die flotte Mark im Westen machen könnten. Handwerker in Schwarzarbeit zum Beispiel, und dann wäre die Arbeit in der DDR noch weniger wert. Richtig glücklich weiß sich nur die Wirtin vom „Goldenen Stern“ zu schätzen, für die sich die Lage ihrer Eckkneipe außerhalb des Zentrums zum ersten Mal ausgezahlt hat: Im Nachbarhaus ist die Paßstelle untergebracht, wo die Bernauer seit vier Tagen für ein Visum Schlange stehen: Der Umsatz hat sich in dieser Zeit verdoppelt.

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