: ZUGSPITZE WEG!
■ „Der Berg und die Maschine“ in der Naunynstraße 65
Ein Monument des deutschen Nationalstolzes wurde mit der Spitzhacke abgetragen. Die Zugspitze, deutsches alpines Höchstmaß, wurde zum Gegenstand künstlerischer Aneignung und damit zum dritten Mal in diesem Jahrhundert um einige Zentimeter verringert. Das erste Mal ebnete man den höchsten Gipfel ein, um dort das Münchner Haus, Wetterstation und Ausflugsziel zu bauen. Das zweite Mal griffen die Nationalsozialisten in die Bergwelt ein und kappten eine Spitze, um dort einen Turm zur Flugkontrolle zu errichten der Plan blieb unrealisiert. Seitdem stellt der Ostgipfel die höchste Spitze dar: die Angaben seiner Höhe schwanken zwischen 2.963 und 2.966 Metern, weil die Ausgangspunkte der Messung - Normal Null - für die Deutschen in der Nordsee und die Italiener im Mittelmeer liegen. Diesen Ostgipfel nun erkletterten am 4. Oktober bei wunderbarer Fernsicht zielstrebig die direkt aus Berlin angereisten Künstler Stefan Micheel und HS Winkler und füllten sich ihre Expeditionsrucksäcke mit soviel abgeschlagenem Gestein, wie sie eben tragen konnten. Ohne zu ahnen, daß sie Zeugen einer Performance waren, fotografierten Hunderte von Touristen vom gegenübergelegenen Münchner Haus aus die Aktion, da sie sich genau vor dem von jedem Bildjäger begehrten Alpenpanorama abspielte.
Mit dem Zugspitzgestein auf dem Buckel fuhren Micheel und Winkler in unbeirrbarer Mission zurück nach Berlin in die Naunynstraße 65 und warfen die Brocken in eine profane Betonmischmaschine, wo sie seitdem unter ohrenbetäubendem Lärm einem ständigen Prozeß des Zerreibens, Zersplitterns und Zerkleinerns unterworfen sind. Bald wird nur noch Staub übrig und vierzig Kilo des ewigen Berges zernichtet sein. In der Nacht projizieren Micheel und Winkler ein blaues Diapositiv von der erhabenen und uralten Welt der Gipfel auf die gegenüberliegende Hauswand, an der die Schroffen und Schrunden der Felsen zuerst für die Verwitterungsspuren an der Fassade selbst gehalten werden.
Winkler und Micheel, Spezialisten für die Veränderung der Wahrnehmung und für verschobene Akzente in vertrauten Bildern, haben damit einem erdgeschichtlichen Prozeß vorgegriffen. Die Auffaltung und Verwitterung der Gebirge, eine ständige Bewegung, die sich aber durch ihre gigantischen zeitlichen und räumlichen Dimensionen der menschlichen Beobachtung entzieht, beschleunigen sie maschinell und verfremden den natürlichen Verfall.
Die Igel zählen (laut einem Kinderbuch): eins, zwei, drei, viele. Ein Forscher an einem mathematischen Institut verbrachte Jahre damit, herauszufinden, wann die Wahrnehmung von Quantitäten umschlägt von der Vorstellung einer Zahl in die Annahme einer unzählbaren Masse. Dieser Punkt, an dem sich ein Erkennen der dinglichen Welt der rationalen Meßbarkeit entzieht und emotional mit Staunen, Schrecken, Verwunderung oder Begeisterung aufgenommen wird, beschäftigt Micheel und Winkler. Ein anderes irrationales Faszinosum mit einer mythischen Aura entdeckten sie im „ewigen Eise“ und stellten in einen einen Kubikmeter großen Eisblock das „Antarktische Alluvium“ in der Ausstellung „Ressource Kunst“ vor. Sie planen eine Reise in die Antarktis, um am Südpol senkrecht in die Erdachse zu bohren und Erdachseneis zu fördern. Die Formel von der „Aneignung der Welt durch unsere Sinne“ wird von ihnen noch einmal wörtlich genommen und konkret erfüllt.
Katrin Bettina Müller
„Der Berg und die Maschine“ von Stefan Micheel und HS Winkler im P.T.T.Red, Naunynstrasse 65, Do bis Sa 19 bis 21 Uhr, bis 18. November.
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