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Freischwebend am Baukörper

■ Zwei Ausstellungen zum 100.Geburtstag des vergessenen Bauhausarchitekten Hannes Meyer

Irgend etwas zieht den Besucher an. Ohne zu wissen, was es sein könnte, ahnt er, daß dort etwas ist, das es lohnenswert macht, den Architekten Hannes Meyer aus dem Dunkel des Vergessens hervorzuzerren und ihn, den Lehrer und Bauhausdirektor, wenigstens einmal vor seine Kollegen Mies van der Rohe und Walter Gropius zu stellen.

Aber was ist an den Plänen, Isometrien und Modellen, daß sie mehr fesseln als die Ausführung in Glas, Beton und Eisen? Gleich im Eingangsbereich des Bauhausarchivs Berlin steht das Modell des Völkerbundgebäudes, das Hannes Meyer 1927 gemeinsam mit Hans Wittwer zu einem Wettbewerb eingereicht hatte. Eine kühne Konstruktion, die gegen die traditionalistische Repräsentationsarchitektur gerichtet war und die Bauhausidee des „neuen Bauens“ auf den Punkt brachte.

Aber das ist es nicht, was den Besucher fasziniert.

Dann kommt er an der Genossenschaftssiedlung Freidorf vorbei, dem eidgenössischen Modell einer Gartenstadt. Den Begründern der Siedlung in Muttenz bei Basel galt sie als Fanal gegen den Mietskasernenbau der Industriellen.

Auch das ist es nicht.

Und das Propagandainstrument der Genossenschaftsbewegung, das „Theatre Co-op“, welches ganz in Rot gehalten war, signalrote Decke, signalrote Bänke, signalrote Vorhänge? Eine einzige Provokation für das Auge des bürgerlichen Theaterpublikums. Hannes Meyer konstruierte die Bühne 1924 für die Abteilung Schweiz auf der internationalen Genossenschaftsausstellung in Gent und nutzte zum ersten Mal das Theater als Präsentationsform für die Co-op-Artikel aus genossenschaftlicher Produktion.

Dennoch ist es auch das nicht.

Der Besucher strebt weiter und kommt an Fotografien und Linolschnitten vorbei. Freie Arbeiten Meyers, die von der Suche nach neuen Wegen des Gestaltens zeugen.

Aber das ist es auch nicht.

Gerade will der Besucher seinen Schritt beschleunigen, um den Rest der Ausstellung unwillig hinter sich zu bringen, da taucht vor ihm ein weiteres Modell auf.

Das ist es. Die Petersschule in Basel. Mitten hineingepflanzt in die Altstadt, wirkt der Eisenfachwerkbau mit Wellblechverkleidung wie eine Ohrfeige gegen diejenigen, die für eine harmonische Einbindung moderner Architektur in alte Bausubstanz plädieren. Mit einer waghalsigen Hängekonstruktion sind auf zwei Ebenen die Pausenhöfe freischwebend am Baukörper angebracht. Das Geländer der hängenden Schulhöfe ragt nur wenige Meter vor den putzigen Fachwerkhäusern des Altstadtplatzes empor.

Der Bau scheint alles zu verspotten, was sich Mitte der zwanziger Jahre zum traditionellen Bauen bekannte. Hier reibt sich funktionelles Denken an der Praxis herkömmlichen Bauens. Der Entwurf der Petersschule machte schon damals alle Zeitgenossen sprachlos: Die Jury ging über diesen Entwurf von Hannes Meyer und Hans Wittwer einfach hinweg, und auch die Presse schwieg beharrlich.

Bis heute hat sich daran wenig geändert. Meyers Architektur fordert noch jetzt heraus; sein Prinzip ist das der kalkulierten Provokation, mit deren Hilfe er eine Debatte losbrechen wollte - ein schwieriger Prozeß, der schon damals augenscheinlich mißverstanden wurde. In seinen Entwürfen, die immer auf den bloßen Zweck des Gebäudes ausgericht sind, liegt eine Unbeirrbarkeit, die genug Stoff für eine Auseinandersetzung über den Sinn oder Unsinn funktionnellen Bauens birgt. Mit welcher Ironie Hannes Meyer den so gut wie chancenlosen Wettbewerbsbeitrag zur Petersschule kommentierte, zeigen seine Erläuterungen zum „Schulhaus von heute“. Mit roter Schreibmaschinentype ist am Schluß des Artikels hervorgehoben: „Die wunderbare Peterskirche und der nuggische 18.-Jahrhundert-Brunnen können sonach noch ungestört jahrhundertelang vermodern. Hoch die Denkmalpflege!“

Nicht nur seiner Kompromißlosigkeit hat es Hannes Meyer zu verdanken, daß wenig vom dem realisiert wurde, was er erdacht hat. Das Schicksal des Schweizer Architekten läßt sich einmal mehr als Musterbeispiel dafür nehmen, wie in der Zeit des kalten Krieges unbequeme Denker einfach aus der öffentlichen Diskussion verbannt wurden. Außer den nicht zu vermeidenden Hinweisen auf sein Amt als Bauhausdirektor fand Hannes Meyer im Westen so gut wie keine Beachtung, weil er Kommunist war.

Tatsächlich hatte sich der Architekt 1930 nach seiner Entlassung als Bauhausdirektor, die von der rechten Presse in Dessau forciert worden war, zum Marxismus-Leninismus bekannt und war nach Moskau ausgewandert. Aber trotz seiner stalinistischen Haltung, die er bis an sein Lebensende nicht aufgeben sollte, konnte Meyer in der Sowjetunion nicht Fuß fassen. Wie viele westliche Experten und Spezialisten geriet er zwischen die Fronten der Systeme. Von den Kommunisten als dekadent und bourgeois beschimpft und geächtet, durch sein Bekenntnis zum Marxismus im Westen ebenfalls in Ungnade gefallen, kam es erst in den letzten Jahren in der Fachwelt zu einer neuen Diskussion, nachdem die DDR das Bauhauserbe positiv umgewertet hatte und auch im Westen wieder ein Interesse an einer „linken“ Bautheorie erwachte.

Diese Umorientierung hat uns zum hundertsten Geburtstag von Hannes Meyer gleich zwei Ausstellungen beschert: die vom Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt und dem Bauhausarchiv konzipierte Schau Hannes Meyer - Architekt, Urbanist, Lehrer 1889-1954, die im Berliner Bauhausarchiv am Lützowplatz zu sehen ist, und die in Weimar von der Hochschule für Architektur und Bauwesen entwickelte Parallelveranstaltung Hannes Meyer - Architekt, Stadtplaner, Bauhausdirektor 1928-1930, die derzeit im Dortmunder Museum für Kunst- und Kulturgeschichte gastiert.

Wo der Nachlaß fehlt, gestaltet sich eine Dokumentation äußerst schwierig. Da die Zeichnungen, Pläne, Lichtpausen und Modelle, die Hannes Meyer hinterlassen hat, sämtlich in der Schweiz oder in West-Berlin verblieben sind, mußten die Organisatoren der Weimarer Ausstellung auf Fotos und Zitate zurückgreifen. Lediglich fünf Modelle wurden von Weimarer Studenten nachgebaut. Die reine Bild-Text-Dokumentation hat gegenüber der Berliner Version nur einen Vorteil aufzuweisen: Sie berücksichtigt auch die frühen Arbeiten Meyers und unterstreicht den prägenden Einschnitt im Leben Meyers, als er in den letzten Kriegsjahren 1917/18 bei der Kruppschen Bauverwaltung in Essen an dem Siedlungsprojekt Margarethenhöhe beteiligt war. Dortmund unterstreicht den politischen Menschen, Berlin den kreativen, provozierenden Architekten. Die politische Motivation Meyers bleibt in Berlin eher unterbelichtet: Seine Pläne für Urbanisationen in der Sowjetunion und Mexiko wirken deshalb etwas unvermittelt und losgelöst.

Vielleicht hätte man sich im Sinne einer angemessenen Meyer -Wiederentdeckung - statt des Gegeneinanders beider Konzepte - lieber auf ein deutsch-deutsches Gemeinschaftswerk verständigen sollen. Aber beides bleibt hübsch getrennt und damit unvollkommen. Hier die didaktisch gut aufbereitete, jedoch staubtrockene Wandtafelschau und dort die Präsentation der Originale, die nur mit mageren Texthäppchen versehen sind. Vor allem bei der Bewertung der Schaffensphase, die Meyer ganz unter die marxistische Ideologie stellt, wirft die Berliner Ausstellung viele Fragen auf.

Christof Boy

Berlin: Hannes Meyer - Ar chitekt, Urbanist, Lehrer 1889-1954“. Noch bis zum 19.November. Der Katalog kostet 45 DM.

Dortmund: Hannes Meyer - Architekt, Stadtplaner, Bauhausdirektor 1928-1930. Noch bis zum 30.Dezember.

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