: Wer war Krenz?
Wolf Biermann
So stand es auf eine Pappe hingemalt. Wer war Krenz? Eine Frau hielt diese drei Worte an einem Besenstiel hoch, und so sah ich es in der Fernsehübertragung von der Massendemonstration auf'm Alex am 4.November.
Die kleinen und die großen Fürsten des sterbenden Feudalsozialismus spielen eine mehr und mehr komische Rolle im großen Stück, das gerade auf dem Straßentheater der Weltgeschichte zur Aufführung gebracht wird. Und dabei ist noch nicht mal entschieden, ob es nicht doch noch eine blutige Tragödie wird. Aber darüber will ich nicht spekulieren.
Was an den stürzenden Halbgöttern komisch sein soll? - Nur dies: Sie, die nie die Welt verstanden, verstehen nun plötzlich die Welt nicht mehr. Ihr falscher Himmel stürzt ein, und die echte Erde tut sich auf.
Ich schrieb vor paar Tagen die „Ballade von den verdorbenen Greisen“ und sang dieses neue Lied auch über das West -Fernsehn in die DDR rein. Fünf Männer, fünf Strophen. Vier davon, Hager, Mielke, Schnitzler und Honecker, sind inzwischen schon gestürzt. Krenz noch nicht. Und da man in Bälde nicht einmal mehr diese Namen kennen wird, habe ich sie nun für die allernächste Ewigkeit aufbewahrt, solide eingegossen in Vers und Reim. Ich habe diese einst allmächtigen Herren festgehalten in einem Pasquill von der Art, wie ich es etwas drolliger auch schon früher, vor einem Vierteljahrhundert, in der Chausseestraße 131 gegen die Bonzen der SED schrieb:
Im Neuen Deutschland finde ich
Tagtäglich Eure Fressen
Und trotzdem seid ihr morgen scho
Verdorben und vergessen.
Heut sitzt Ihr noch im fetten Speck
Als dicke deutsche Maden
-ich konservier Euch als Insekt
Im Bernstein der Balladen.
Als Bernsteinmedaillon, als Ring
Als Brosche auf dem Kragen
-so werden Euch die schönen Frau
Im Kommunismus tragen...
Tja, wer wird schon gern auf die Schippe genommen. Aber nun gebärden sich diese alten Esel wie Heilige Kühe, die geschlachtet werden sollen. Und weil ich sie schmerzhaft am Schwanz zog, tun sie so, als wetzten wir die Messer. Keine Rede davon! Keiner soll geschlachtet werden. Das wolln wir ja gerade: endlich und endgültig raus aus diesem Teufelskreis der Gewalt! Ich meine es ja, wie's im Refrain steht:
Wir wolln Euch nicht ins Verder ben stürze
-ihr seid schon verdorben genug
Nicht Rache, nein Rente
im Wandlitzer Ghetto...
Und natürlich würde ich auch dieses Lied in der Samariterkirche singen, oder praktischer: in der großen Ostberliner Seelenbinderhalle.
Die wendefreudigen Stalinisten, wenn sie noch länger mitmischen wollen, werden lernen müssen, den Zweifel, den Widerspruch, die Kritik und auch den öffentlichen Spott zu ertragen. Selbst Helmut Kohl muß es ja tagtäglich aushalten, daß über seine politischen Tölpeleien in der Presse gespottet wird. Und voila, Kohl erträgt es, daß es Leute gibt, die den Kanzler kanzeln möchten, er wird öffentlich „Die Birne“ genannt, wie einst der wurmstichige Bürgerkönig Louis Philippe.
Auch der verletzliche und grundehrliche Willy Brandt mußte damit leben, daß ein Lästermaul ihn höchst ungerecht eine „ehrliche Haut ohne Knochen“ schimpfte. Und besser ging's auch zwei ehemaligen Wehrmachtsoffizieren nicht, ich meine den höchstempfindlichen Hanseaten Helmut Schmidt und den unduldsamen Franz Josef Strauß. Alle Politiker in der Demokratie müssen mit dem Widerspruch leben - und die Schlaueren leben nicht nur damit, sondern leben sogar davon.
Wenn Kohl demnächst sein Pendant Krenz trifft, sollte er dem Wendebonzen mal sein Oggersheimer Herz ausschütten. Kohl sollte Krenz mal verklickern, was ein Kanzler der Bundesrepublik sich alles öffentlich sagen lassen muß, besonders dann, wenn er regelmäßig in die Fettnäpfchen der Weltgeschichte tritt.
Kohl könnte Krenz gewiß ein Lied davon singen, wie er litt, als er gegen das wütende Pfeifkonzert der Ost- und Westberliner mutterseelenallein das Deutschland-Deutschland -über-alles-Lied in Mompers Mikrofone knödeln mußte. Von Kohls Stehvermögen und Dickfelligkeit könnte Krenz was lernen.
Aber das sagt sich leicht - und ist in Wahrheit schwer getan, nach so langer Zeit. Verwöhnt von devoten Untergebenen, verhätschelt von ihren stalinistischen Hofschranzen und umschmeichelt von all ihren rotgetünchten Kaisersgeburtstagsdichtern, verweichlicht vom Muff einer totalitären Idylle, müssen die Bonzen der DDR nun versuchen, die frische kalte Luft zu atmen. Krenz oder spätestens sein Nachfolger wird lernen müssen, öffentliche Kritik zu ertragen, auch wenn sie ungerecht - und sogar: wenn sie gerechtfertigt ist. Wer wollte Gott spielen!
Dialog will gelernt sein. Das Volk entdeckt seine Zunge wieder, aber die Bonzen müssen ihre Ohren neu entdecken.
Egon Krenz, in Jahrzehnten vom Reden harthörig geworden, kommt mir hartherzig vor. Daß er ein Säufer war oder noch ist, finde ich bei weitem nicht so schlimm wie diese chronische Selbstbesoffenheit eines Apparatschiks. Und nun gebärdet sich der hartgesottene Kronprinz von gestern wie eine Prinzessin auf der politischen Erbse. Krenz fühlt sich beleidigt. Und deshalb darf der kleine Biermann nicht rein, es ist zum Totlachen. Er ärgert sich und schmollt und zickt rum.
Wenn Krenz ein Kerl wäre und nicht nur eine leere Funktionshülse, dann hätte er längst die Chance beherzt ergriffen. Als ich am 4.November zusammen mit meinem Freund Ralf Hirsch im Bahnhof Friedrichstraße in der Schlange der Wartenden stand, hatte ich eine muntere Idee, die ich Krenz gegönnt hätte.
Stell dir vor, sagte ich zu Ralf, wir kommen hier durch. Und als erster steht dann Krenz vor uns, gibt mir die Hand, und dann haut er mir eins in die Fresse und sagt: So, Biermann, das war für Deine Beleidigungen in der taz - aber jetzt komm rein und singe uns Dein bestes Lied: die „Ermutigung“. Diese ulkige Szene live im Ostfernsehen - ich wette, Krenz hätte die Lacher auf seiner Seite und würde Sympathien und Vertrauen gewinnen... Aber statt dessen wurden wir von einem bleichen Offizier mit dem Standardsatz aus der Schlange der Wartenden selektiert und zurück nach West-Berlin geschickt.
Nun ist die Mauer angeknackt, alles jubelt, und ich freu mich auch. Aber Freya Klier darf nicht mal Transit reisen, Jürgen Fuchs ist immer noch eine Unperson, und die größte deutsche Dichterin, Helga Novak, wollte nach Ost-Berlin rüber und kriegte an der Grenze wieder den vertrauten Fußtritt wie ein Hund.
Und mir geht's nicht anders. Weder der böse Wolf noch der liebe Biermann dürfen in die DDR einreisen. Das vorbereitete Konzert in Pfarrer Eppelmanns Kirche konnte diesen 14.November nicht stattfinden - verboten wegen Majestätsbeleidigung.
Der tiefere Grund für dieses anachronistische Nein soll nicht verschwiegen werden: Krenz & Co. verzeihen uns nicht, was sie uns in Jahrzehnten angetan haben. Es ist die Angst.
Eigentlich sollte man stur sein, nach so vielen Jahren der Demütigung. Und ginge es nicht um die lebendigen Menschen, nach denen ich Sehnsucht habe, dann würde ich sagen: Ihr könnt Euch den Passierschein in den breitgesessenen Hintern stecken. Man müßte sagen: Ihr habt so viele gute Leute kaputt gemacht - ehe ihr nicht wenigstens Robert Havemann in aller Form rehabilitiert habt, kann ich es mir aus moralischen Gründen gar nicht leisten, dieses von euch ruinierte Land zu betreten.
Havemanns Schriften müßten nun auch in der DDR veröffentlicht werden. Und die Politgangster, die diesen verdienstvollen Antifaschisten jahrelang bis zu seinem Tode gequält haben, sollten in einer Öffentlichkeit angeprangert werden, die der angemessen ist, mit der mein Freund Robert, seit er ein Ketzer geworden war, von der stalinistischen Inquisition diffamiert wurde.
Ja, Havemann! Weil der Philosoph und Naturwissenschaftler, der Kommunist Robert Havemann der wahre „Nestor“ der jetzigen Opposition ist. Als Stefan Heym auf dem Alex am 4. November mit diesem Ehrentitel angekündigt wurde, hätte es klingeln müssen in seinem guten Gedächtnis.
Er hätte wenigstens in einer Nebenmerkung seinen alten Freund Robert erwähnen müssen, seinen toten Freund, den die Nazis zum Tode verurteilt hatten. Aber - leider! - Stefan Heym hatte diesen tapferen Menschen schon lange vorm Tod, schon seit dem unseligen 11. Plenum des ZK der SED im traurigen Monat November 1965 (!) klammheimlich in sich begraben ... Und wäre ich durchgekommen an diesem eigentlichen Tag der Revolution in der DDR, ich hätte mein Lied vom Hugenottenfriedhof gesungen, in dem es heißt: „Wie nah sind uns manche Tote, doc
wie tot sind uns manche, die leben...
Die jungen Leute in der DDR würden verblüfft und mit großer Freude feststellen, daß nicht wenige ihrer allerneuesten Überlegungen schon vor 20 Jahren von dem streitbaren und fröhlich unerschrockenen Havemann formuliert wurden.
Was jetzt in der DDR endlich sich Bahn bricht, ist kein Zufallsprodukt der dramatischen Situation, sondern steht auch im Kontinuum einer geistigen Opposition, die ohne Robert Havemann undenkbar wäre.
Es ist wahr, ich habe Krenz öffentlich attackiert, denn ich halte ihn nun mal für einen Reaktionär. Und ich halte ihn zudem für einen Politiker ohne menschliches Format, ich halte ihn für einen Homunculus bürokraticus, gezüchtet in den Retorten der stalinistischen Bürokratie.
Honecker wie Krenz sind selbsternannte Vertreter der Arbeiterklasse. Aber es gibt Unterschiede. Krenzens Ziehvater hat zwar auch nie groß als Dachdecker gearbeitet, aber er kämpfte gegen den deutschen Faschismus und wurde elf schlimme Jahre im Zuchthaus Brandenburg gequält. Kronprinz Krenz ist von Beruf Lehrer, aber einer, der nie lehrte. Daß er nie kleine Menschen in die Mache nahm, das ist vielleicht das einzig wirklich Gute, was er bisher für die Menschheit getan hat. Aber, wer weiß, vielleicht wäre es ein Segen für ihn und für uns gewesen. Wäre er ein richtiger Lehrer geworden, dann hätten vielleicht die Kinder was Besseres aus ihm gemacht. Wer will das wissen.
Krenz - sein Selbstbild zeigt ihm im falschen Spieglein einen Revolutionär und proletarischen Klassenkämpfer, der jedes Bankett für eine Barrikade hält. In Wahrheit war Krenz jahrelang der oberste Berufsjugendliche der DDR, genau wie Honecker FDJ-Chef. Und er übernahm dann, wie vordem sein Meister auch, im Politbüro die Verantwortung für die sogenannten bewaffneten Organe, also: Armee, Polizei und Stasi.
Egon Krenz war der Vorgesetzte des verhaßten Ministers Mielke und somit war er verantwortlich für den jahrelangen Terror des Staatssicherheitsdienstes gegen das eigene Volk, eine stolypinsche Schreckensherrschaft, die im Pogrom zum 40. Jahrestag kulminierte und die sich, wie Rechtsanwalt Gysi am 4. November offenbarte, in der chinesischen Lösung für Leipzig fast vollendet hätte.
Insofern war es nur logisch, daß Egon Krenz das Massaker in Peking schamloser als alle anderen bejubelte. Und ob ausgerechnet er es war, wie er behaupten läßt, der das vorbereitete Massaker in Leipzig in letzter Minute und auf eigene Faust abwendete, das wird sich noch herausstellen. Ich glaube es nicht.
In der DDR kursiert ein Gerücht, und das besagt etwas Anderes: Leipzig wurde am 9. Oktober nicht von Krenz, sondern von der sowjetischen Armeeführung in der DDR gerettet. Die Rote Armee, so sagt man, habe auf Anweisung Gorbatschows der SED-Führung den Einsatz von Panzern gegen das eigene Volk verboten. Noch stehen ja die Truppen der Sowjetunion in der DDR, und sie haben teuer bezahlte und wohlerworbene Besatzer-Rechte. Wer weiß, vielleicht waren die sowjetischen Panzer in diesen kritischen Tagen ein zweites Mal die Rettung für Deutschland.
Und sogar, wenn es sich als wahr herausstellen sollte, daß Egon Krenz drei Minuten vor dem Losschlagen die Mordmaschine per Funkspruch anhielt, dann interessieren uns noch die Umstände und Motive. Es wird ans Licht kommen, ob Krenz der Retter war, als den ihn uns Gysi pries.
Es ist nun mal so, daß es bei politischen Konfrontationen immer auch um Personen geht, einzelne Menschen mit Namen und Gesicht.
Im politischen Streit kann man nicht nur mit abstrakten Begriffen rumfuchteln. Im Bösen wie auch im Guten machen wir alle politischen Positionen immer zugleich auch an lebendigen Hauptdarstellern fest. Auch Egon Krenz steht für eine politische Richtung, und wenn ich die angreifen will, muß ich auch diesen einen Menschen angreifen.
Gewiß darf man körperliche Mißbildungen nicht als Argument gegen den politischen Gegner ins Feld führen. Aber mein böses Wort vom „ewig lachenden Gebiß“ nehme ich nicht zurück, und es wird voraussichtlich länger halten als das Gebiß des Kandidaten. Diese giftige Formulierung sollte ihn ja auch treffen, und sie traf, wie man sieht, ins Schwarze.
Mein Freund Robert Havemann war ein wunderbar frecher Witzbold. Er sagte mal: Wolf, wenn du in der Finsternis rumballerst, triffste immer ins Schwarze.
Das Wort vom ewig lachenden Gebiß ist auch gerade deshalb nicht unfair und keineswegs eine Verleumdung, weil, anders als ein Hinkefuß oder ein Buckel, das Gesicht eines ausgewachsenen Menschen das ist, wofür er nun wirklich die Verantwortung trägt. Und es sind ja nicht einmal die Zähne selbst. Der Komiker Fernandel hat mit gebleckten Hauern, die von der Mutter Natur noch monströser gestylt wurden als bei Egon, sich die Sympathien der halben Menschheit erobert. Es ist der verlogene und geistarme Optimismus, es ist die monotone Kraft-durch-Freude-Fröhlichkeit, die uns seit Jahrzehnten aus diesem verwüsteten FDJ-Gesicht entgegenlacht.
Und daß Krenz eine „fleischgewordene Aufforderung zur Republikflucht“ sei, ist auch ein böses Wort von mir, aber es ist leider wahr. Vor Tagen sahen Millionen Deutsche in Ost und West das Meeting Egon Krenz/Johannes Rau im Fernsehen. Als da nämlich Krenz bestätigen mußte, daß es bald freie demokratische Wahlen in der DDR geben werde, fügte er schnell und mit verräterischer Ungeschicklichkeit hinzu, daß die bisherigen Wahlen in der DDR schließlich auch demokratisch und frei gewesen seien ...
Ein gewiefterer Repräsentant der alten Garde wäre in dieses wahrhaft Kohlsche Fettnäpfchen nicht getreten.
Es gibt Wohlmeinende, die sagen: Gebt ihm wenigstens eine Chance. Und es gibt den bedenkenswerten Hinweis darauf, daß schließlich auch Gorbatschow seine Karriere in der Nomenklatura machte. Das ist wahr.
Aber es gibt einen gravierenden Unterschied in der Vita dieser beiden Männer: Gorbatschow prügelt sein Volk mit einer Revolution „von oben“ in die Reformen. Aber Krenz wird von seinem Volk in Richtung Glasnost und Perestroika geprügelt.
Nach dem klassischen Marxismus ist das Von-unten-Modell der DDR gesünder und hat mehr Chancen. Umso mehr ärgern sich die allermeisten in der DDR, daß Krenz und seine Apologeten jetzt so tun, als sei der neue Weg, auf den die panische Angst vor dem Verlust der Macht sie treibt, ein freiwilliger Weg.
Ja, sie stehen mit dem Rücken an der Wand, aber stellen sich keck vor die Kameras und behaupten, Dialog und Reform und Maueröffnung seien ihre ureigenste Initiative, ihre souveräne Strategie und staatsmännische Weitsicht. Und sie faseln vom Gesicht, das sie nun wieder dem Volke zuwenden wollen - ein Gesicht, das sie längst verloren haben.
Solche offensichtlich verlogenen Äußerungen treiben besonders die jungen Arbeiter aus dem Lande. Krenz hat eben immer noch die hochnäsigen Allüren des gnädigen Herrn, der Freiheiten verschenkt. Aber so ist das eben mit der Freiheit, Herr Krenz. Freiheiten im Plural werden in der Tat vom Fürsten gewährt. Aber die Freiheit im Singular, die kriegt man nicht, die nimmt sich das Volk selber, voila!
Dabei wissen wir sehr wohl - und kein tiefer Flachdenker muß uns darüber belehren -, daß es absolute und schrankenlose Freiheit nur in einem Narrenparadies geben kann, das es nicht gibt, nie gab und nie geben wird.
Es wird in diesen Tagen viel über die bankrotte Wirtschaft der DDR geredet, und etliche bundesdeutsche Wirtschaftsriesen und Politzwerge stehen schon auf dem Sprung in profitträchtige Joint-Venture und andere Liebesheiraten. Geld macht sinnlich, sagte Brecht.
Aber gemessen am Zustand der Menschheit, zu der wir Deutschen ja nun außerdem noch gehören, ist die DDR trotz aller Mißwirtschaft ein reiches Land. Und ich glaube, das wirkliche und tiefe Elend der DDR ist nicht der stinkende Pappkarton auf Rädern Marke „Trabant“, sondern der Gestank der Heuchelei.
Nicht der halbvolle Korb im Supermarkt ist den Menschen unerträglich halbleer, sondern der Maulkorb ärgert sie. Gerade weil die Menschen in der DDR nicht verhungerten und erfroren, ist der Mangel an Wahrhaftigkeit und Freizügigkeit so unerträglich.
In Unmündigkeit gehaltene Kinder eines Erziehungsheims hinter Stacheldraht leisten eben keine schöpferische Arbeit. Sie werden um ihr Leben betrogen und betrügen schon deswegen so gut sie können ihre gestrengen Erzieher - und sie können, wie man sieht, sehr gut.
Egon Krenz ist nicht der Mensch, den die DDR braucht für einen eigenen Weg aus der Misere. Krenz kann vielleicht als kopfloser Konkursverwalter des bankrotten Stalinismus die Trümmer seiner eigenen Politik für'n Ei und Butterbrot an den Westen verscheuern.
Krenz kann vielleicht als Makler für potente Geldanleger funktionieren, die ihr Kapital im Billiglohnland DDR günstiger anlegen als im fernen Asien - aber der Traum der Commune wurde in diesem Betonkopf nie geträumt.
Kurz und kaltherzlich: Lieber Krenz, Sie sind in meinen Augen ein Kretin eines bankrotten Regimes, und ich glaube nicht an Ihre Wende. Ich glaube Ihnen, daß Sie wollen. Wenn Sie aber wirklich etwas wollen, was Sie nicht können, dann sollten Sie Besseren Platz machen. Es gibt, das ist eine wichtige Binsenwahrheit, innerhalb und außerhalb der SED kluge, aufrichtige und leidenschaftliche Menschen genug.
Das war nie anders. Immer, wenn eine große Rolle im ganz großen Theaterstück auf der Weltbühne besetzt werden muß, dann gibt es immer auch etliche Kandidaten, die diese Rolle sehr gut spielen könnten. Ich wünsche Ihnen, lieber Krenz, für die Zukunft viel Mußestunden. Lesen Sie dann mal ein längst vergriffenes Buch aus dem Suhrkamp-Verlag von Dieter Kühn: N. Der Titel steht für Napoleon. Sie werden ja, lieber Egon, in Ihrer Jugend mal im Schmalspur-Marxismus -Leninismus-Unterricht etwas von Lenins Lehrer Plechanow gehört haben. Der schrieb ein Buch Die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Der Autor aber des N knüpft daran an und geht einen wichtigen Schritt weiter in die Tiefe der Wechselwirkung von Persönlichkeit und Geschichte. Das Format des einzelnen, wenn er denn erst mal die große geschichtliche Rolle besetzt hat, ist eben doch von größerer Bedeutung, als wir murxustischen Marxisten immer wahrhaben wollten.
Gorbatschow hat offenbar solch ein Kaliber. Vielleicht stachelt die Größe der Aufgabe einen Kandidaten wie Hans Modrow an, solche Kräfte in sich freizusetzen. Viele Menschen in Ost und West, ich auch, trauen ihm das zu. Wer weiß. In den Massenmedien flackern neue beseelte Menschengesichter auf: Bärbel Bohley. Es gibt starke Frauen und Männer in der DDR genug. Man kennt sie nur nicht, weil sie noch in der Kulisse stehen und warten, bis das souveräne Volk sie nach vorn an die Rampe treibt.
Lieber Egon Krenz, vielleicht strafen Sie mich Lügen und schreiben sich doch noch als Reformer in das Buch der DDR -Geschichte ein. In diesem Falle wird mein garstiges Lied über Sie und die anderen vier aus Ihrer Bande vom Winde verweht. Falls Sie aber nicht mehr die Kurve in Richtung Demokratie und Sozialismus und Freiheit kriegen, na dann beklagen Sie sich nicht. Dann seien Sie froh, daß im Lied Ihr Name ein bißchen länger aufbewahrt wird - halt wie eine Fliege im Bernstein.
Sie haben die Macht, mich und andere noch einige Zeit an der Grenze auskrenzen zu lassen. Und ich werde auch nicht versuchen, im allgemeinen Getümmel durchzuwutschen. Aber irgendwann komme ich sowieso in die DDR rein, denn sie ist nicht Ihr privater Schrebergarten. Und wann das sein wird, das wird von Ihrem Wohlwollen so wenig abhängen wie der Sturz der Mauer.
Und wer bestimmt das am Ende? Sie wissen es. Da erschien mal in der DDR ein schönes Buch mit Übersetzungen des amerikanischen Dichters Walt Whitman. Es hat den Titel: Das Volk, jawohl!
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