: PRIMA LEBEN UNTERM STIEFEL
Montagsexperten kommen zu Wort. Heute: Jochen Rindt ■ Ü B E R L E B E N S B Ö R S E ‘ 8 9
Nein, nein, nein, dreimal nein! Kein Wort über DDR, Maueröffnung, Willy-Walter oder verstopfte U-Bahnen. Nein, Schluß, aus, vorbei! Man sieht ja den Kapitalismus vor lauter marktwirtschaftlich gebundener Subventionen nicht mehr. Und so spät ist der noch nicht geworden, daß die Aktionäre nicht Gäste empfangen könnten in ihrem europäischen Haus. Die Polen bekommen den Keller zum Züchten von Champignons zugewiesen und die DDR die Diele, um den Eintritt zu kontrollieren.
Bis dahin aber vergeht noch Zeit, und der Winter droht kalt zu werden. Ob ein aus Geschichte gewebter Mantel wärmt, ist fraglich. Denn die Freiheit, die drüben erkämpft wurde, endet hier exakt bei hundert deutschen Mark. Danach gilt die freie Auswahl bei der Suche nach Schlafplätzen unter Brücken: die gebratenen Tauben im Paradies der Konsumenten heißen Gummiadler, hängen an Spießen und kosten beim derzeitigen Stand des Wechselkurses 70 Ost-Mark.
Derweilen kauft unsereins von einem Donnerstag auf den nächsten ein und wird mit gepolsterten Hamsterbäckchen in der U-Bahn zerdrückt. Am besten, man verläßt das Haus nicht. Die Nachrichten kommen über Fernsehen und Funk, was soll man dabei gewesen sein. Ein Videorekorder ist ein besseres Gedächtnis.
Was hört man im Radio? Einen Bericht über die Fahrt einer Jugendgruppe nach Auschwitz. Dann Musik und die Überleitung des Moderators zum nächsten Thema: „Wir bleiben in Polen und stellen euch jetzt ein polnisches Gericht vor.“ Wem dabei nicht die Vollkornschnitte aus dem Mund fällt, der holt sich die Zutaten auf dem Polenmarkt.
Auf einem anderen Sender wird der Kampf des Menschen gegen den Menschen übergeleitet in einen battle of the bands. Zuhörer können per Telefonanruf die laufende Musik aus dem Programm werfen. Das ist Demokratie für Anfänger, man fühlt sich wie beim Rütli-Schwur, und die Amateure der Zivilisation bekommen hohe Telefonrechnungen, weil sie ihre Lieblingsgruppe noch einmal hören wollen. Zumindest ist ein Montagsexperte seit einer Woche ratlos.
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