Scheibengericht: Peter Gabriel / Joseph Haydn / Einstürzende Neubauten / W.A. Mozart / Bob Dylan / Mario Bertoncini / Bläck Fööss & Fründe / Loose Elbows / Paul Lemos / Henry Purcell

MONTAG, 20/11/8915 o PETER GABRIEL:

Passion/Realworld. Virgin 303 539 (2 LP)

Da sind auf wunderbare Weise zwei sehr unterschiedliche Projektideen miteinander ins Geschäft gekommen: Peter Gabriels weltmusikalisches Engagement, für das er das neue Label „Realworld“ gegründet hat, und Martin Scorseses Musikbedarf für den Film „The Last Temptation of Christ“. Gabriel arbeitete mit Musikern aus Pakistan, Türkei, Indien, Elfenbeinküste, Bahrain, Ägypten, Neu Guinea, Marokko, Senegal und Ghana, mischte nordafrikanische Perkussion und elektronische Klänge ein, und Scorsese bediente sich aus diesem Fundus für seine „Versuchung“. Bei allen Widerständen, die das globale Mischverfahren in mir weckt hier ist in jeder Geste der Improvisation und Arragenments die kompositorische Erfahrung Peter Gabriels spürbar: Feinfühlig sind die Klangidiome kombiniert, effektsicher ist das Schlagwerk plaziert, der zumeist als Bordun verwendete Synthesizerton stiftet geschickt changierend den langen Weltatem. „Passion“ ist eine reife Leistung. o JOSEPH HAYDN:

Variations in f-Moll; Sonaten in c-Moll, Es-Dur und C-Dur. Mikhail Pletnev, Klavier. Virgin Classics CD VC 7 90839 -2/259 789-231

Im Beiheft wird diese Musik zu den „sonates a l'usage des Dames“ gerechnet. (Wie übersetzt man das ins Deutsche, ohne daß dabei die Damen gebraucht, benutzt, verwendet werden?) Mit weiblicher Ästhetik oder fraulicher Spieltechnik hat das nichts zu tun, sondern allgemein mit Übungsstücken für Klavierschülerinnen. Hier im besondern aber handelt es sich um Sonaten (Die f-Moll-Variationen gelten als Kopfsatz einer Sonate, deren weitere Ausführung sich als überflüssig erwiesen hat), die Meisterschülerinnen wie Babette von Ployer oder exzellenten Künstlerinnen wie den Schwestern Caterina und Marianne Auenbrugger und der in London lebenden Pianistin Therese Jansen gewidmet waren. Nun hat es sich gefügt, daß die Damensonaten in die Hände eines Mannes gefallen sind. Der 32jährige Pianist Mikhail Pletnev, der auch komponiert, hat Haydns Gedankengänge nachgedacht und alles überzeugend wiedergegeben: die virtuosen Figuren und Läufe des c-Moll-Finales, die souveräne Rhetorik des C-Dur -Adagios und die witzig eingebauten Modulationsirrtümer des folgenden Allegro. Das alles ist fein ausbalanciert und in Spannung gehalten. o EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN:

Haus der Lüge. Rough Trade L1-344 RTD 126

Ja, es ist inzwischen fast alles darüber gesagt und geschrieben worden. Trotzdem: Mir gefällt „Ein Stuhl in der Hölle“, weil es so einfach ist, und „Maifestspiele“, weil darin die aus „Fiat Lux“ abgeleitete, sakrale Trauerformel den heißen O-Tönen vom Maibesuch Reagans 1987 eine Dimension verleiht, hinter der die anderen Stücke dieser Platte zurückfallen. Denn Blixa Bargelds analogische Textkompositionen werden zu oft mit todernst-teutonischen Klang- und Geräuscharrangements beschwert, wodurch eine geradezu fundamentalistische Dringlichkeit vermittelt wird, die die Worte verhöhnen. Und wenn Bargeld bekennt: „Wir sind irgendwie sehr deutsch. Das ist nun mal so“, dann meint er vielleicht die Mühe mit der witzigen Virtuosität: „Inmitten meiner Kreise, doch deren Mitte bin ich nicht.“ (Fiat Lux) Also rein oder raus! Der pissende Hengst auf dem Cover jedenfalls hat solche Probleme nicht. o WOLFGANG AMADEUS MOZART:

Sämtliche Klaviersonaten. Mitsuko Uchida, Klavier. Philips Classics 6 CD 422115-2.

Klavierkonzert Nr. 21 C-Dur KV 467/Klaviersonate A-Dur KV 331. Mitsuko Uchida, Klavier; English Chamber Orchestra, Jeffrey Tate. Philips Classics CD 426 374-2.

Klavierkonzert Nr. 24 c-Moll KV 491 und Nr. 25 C-Dur KV 503. Mitsuko Uchida, Klavier; English Chamber Orchestra, Jeffrey Tate. Philips Classics CD 422 331-2.

„Wir sind nicht dazu da, unsere Technik zu zeigen, wir sind wie Blätter im Herbst. Wir kommen und gehen. Mozart bleibt.“ Mitsuko Uchida untertreibt, wo er kann. Von Blättern im Herbst kann überhaupt keine Rede sein. Und um die Sonaten und Konzerte so unangestrengt, so klar und schlüssig zu spielen, muß sie die Technik nicht zeigen, sondern - viel mehr - zur Verfügung haben. Die in London lebende Japanerin überschreitet allerdings die gewerblichen Fähigkeiten, legt all ihre Empfindung und Nachempfindung in die Tasten, ohne das Notierte in irgendeiner Weise zu vernachlässigen. Mitsuko Uchida „macht“ (wie es im Fachjargon heißt) den Mozart nicht, sie lebt ihn. Das liest sich nur für den pathetisch, der die Uchida nie spielen oder dirigieren gesehen hat. Dennoch irritieren die Direktiven, die sie aus ihrer Erfahrung zieht: „Um Schumann, Schubert oder Beethoven spielen zu können, würde ich von jedem Pianisten die absolute Beherrschung der deutschen Sprache verlangen“, oder: „Die Kenntnis des ganzen Mozart, besonders seiner Opern, ist wesentlich für den Zugang zu den Sonaten.“ Als ob die Sonaten ihr Geheimnis a.a.O. versteckt hätten. Man muß ihr ja nicht in jeden Winkel folgen. o BOB DYLAN:

Oh Mercy. CBS 465800 1

Mußt Du hören, sagt man mir, Dylan singt so, daß man's auch verstehen kann und macht auch keine Bekehrungsversuche. Letzteres stimmt nicht ganz, ansonsten kann ich die sensationelle Nachricht bestätigen. Bob Dylan bietet unaufwendig arrangierte Songs an, deren Machart an die seiner ersten erfolgreichen Titel erinnert. Auch hängt er sich hin und wieder die Mundharmonika um. Die Prägnanz der frühen Stücke hat er dabei nicht erreicht, - am nächsten kommt ihr noch „Man in the long black Coat“ mit der zirpenden Grille im Hintergrund. Aber ich sehe auch, wie ungerecht es ist, jemanden an seinen Jugendwerken zu messen. o MARIO BERTONCINI:

Mario Bertoncini: Cifre, Earle Brown: Four Systems, John Cage: Cartridge Music. Edition RZ Ed. RZ 1002

Einen Flügel so zu präparieren, daß auf ihm Kompositionen der 50er und 60er Jahre realisiert werden können, ist eine Wissenschaft. Der hat sich Martio Bertoncini mit heißem Bemühn gewidmet. Und wer weiß, ob jemand besser als er die Gummis, Papiere, Holzstückchen, Schrauben montieren und die Hohlraumgefäße, Walzen, Bürsten und Perlonsaiten handhaben kann als er. Der weitgehende Verzicht auf den Tastendruck und die unbeschränkten Möglichkeiten der sonstigen akustischen Klangerzeugung lassen sehr unterschiedliche Klangbilder erwarten. Das Gegenteil ist der Fall. Um den Übergang von Bertoncinis beiden Cifre-Teilen zum und aus dem eingebetteten „Four Systems“ von Earle Brown mitzubekommen, muß man schon den Blick auf die Trennrillen heften. Ein eigenständiges Klangprofil weist ausgerechnet das Stück auf, das innerhalb weniger Rahmenbedingungen ganz auf dem Zufall beruht, ist die „Cartridge Music“ (1960) von John Cage, vor allem deshalb, weil darin Phono-Tonabnehmer und Kontaktmikrophone verwendet werden. Das Werk ist für eine beliebige Anzahl von Ausführenden konzipiert. Bertoncini wählte die Zahl eins: sich selbst. Aber es raschelt, rasselt, knackst, rauscht, rumpelt, scheppert, quietscht, zirpt, knarrt und zischt, als ob ein halbes Dutzend eifriger Fummler in den Eingeweiden des Flügels wühlte. o BLÄCK FÖÖSS & FRÜNDE:

1989 em Millowitsch-Theater. EMI 1C 2 LP 198-7 92890 1

Der Live-Mitschnitt eines Bläck Fööss-Konzerts mit Wolfgang Niedecken und Klaus „Major“ Heuser von BAP, auf dem die ganze Palette kölscher Möglichkeiten dokumentiert ist: Schlager, Rap, Karnevalslied, Popmusik, Choral. Immer wieder werden diese regionalen Mundartisten in der schunkelseligen Pappnasenszene angesiedelt. Wahr ist, daß sie sich keinem Genre verweigern und der lokalpatriotischen Gemütlichkeit Gift beimischen. Wer ihr Lied „Dä Wing vun Kölle am Rhing“ gehört hat, wird dort keinen Wein mehr trinken. Wenn sie den Gospel-Song „Dat Wasser vun Kölle is jut“ (PR-Spruch der Kölner Wasserwerke) intonieren, wird plausibel, daß die aktuellen Graffiti verkünden: „Dat Wasser vun Kölle schmeck nit.“ Was die aber vor vielen anderen auszeichnet, ist ihre beeindruckende Professionalität. Was immer sie anfassen „Penny Lane“ von den Beatles, die Männerchor-Version von Herbert Grönemeyers „Männer“ oder die Kölsch-Version vom „Kaczmarek“ - erhält ein besonderes ästhetisches Profil. Niedecken steuert Altes und Neues bei wie seine „Ruut wiess blau querjestriefte Frau“ oder „Time is cash, time is money“. Und auch für diese musikalische Kooperation gilt: Die Kerle vun Kölle sin jut! o LOOSE ELBOWS.

Susan Tomes plays the music of Billy Mayerl. Virgin Classics CD VC 7 90745-2/259 591-231

Solche Karrieren sind heute kaum noch vorstellbar: Der junge Musiker Billy Mayerl, der jahrelang als Stummfilmpianist gearbeitet hatte, wird im Ersten Weltkrieg zur Truppenbetreuung geschickt. Bei der Rückkehr von einem Konzert fiel sein Koffer über Bord. Und weil wer nichts hat, nichts zu verlieren hat, nimmt sich Mayerl ein Zimmer in einem Luxushotel in Southhampton, wo ein amerikanisches Orchester engagiert ist, dessen Pianist gerade erkrankt war. Mayerl springt ein, bekommt einen Vertrag, zieht mit dem Ensemble ins Londoner Savoy Hotel und wird mit einer allabendlichen Rundfunksendung zu einem der populärsten Musiker Englands. Als Dreizehnjähriger glaubte er, den „syncopated Jazz“ erfunden zu haben, komponierte einen Ragtime für Klavier, den seine Lehrer unakzeptabel fanden, veröffentlichte ihn acht Jahre später unter dem Titel „The Jazz Master“ und verkaufte davon auf Anhieb 150.000 Exemplare. Studenten wollten von ihm unterrichtet werden, so gründete er 1927 die „Billy Mayerl School of Music“ und erteilte Fernunterricht in „syncopated Jazz“, an dem Mitte der 30er Jahre mehr als 20.000 Studenten teilnahmen. Als er 1959 starb, war eine Epoche angebrochen, in der seine Musik keine Rolle mehr spielte. Die Auswahl seiner Klavierstücke, die Susan Tomes präzis, zügig und mit brillanter Leichtigkeit präsentiert, macht das verständlich. In den virtuos veredelten Ragtimes und Songs („Smoke gets in your eyes“ hat bis heute einen hohen Gebrauchswert) sind der Charme und die Eleganz der angelsächsischen Salonmusik aufbewahrt: Chopin auf dem Tanzparkett, Musik in Frack und Weste. o PAUL LEMOS:

Dossier DLP 7552/EfA 08-08552

Paul Lemos, der mit seiner Noise-Art-Gruppe „Controlled Bleeding“ letztes Jahr noch Klang- und Geräuschflächen verschoben hat, gibt sich auf seiner ersten Solo-LP als fortgeschrittener Minimalist. Das erste Stück beginnt mit schmetternden Trompeten, wie in einem Ritterfilm aus Hollywood. Auf unterschiedlichen Tonstufen trötet es aus allen Ecken und fügt sich zu einem schillernden Klangpuzzle zusammen. Die Blechfanfaren ziehen sich durch fast alle Stücke, werden vom Schlagzeug periodisiert, von harmonisch changierenden, interferenztönig eingesungenen Posaunen grundiert und von bluesigen (manchmal bottleneck-) Gitarrenpassagen unterbrochen. In der Vergangenheit sind derartige Minimalkonzepte oft genug peinigend gewesen. Stur und gefühllos wurden die Perioden abgenudelt, und ein buchhalterischer Vollständigkeitswahn ignorierte alle schöpferische Phantasie des Hörenden. Ganz anders geht Paul Lemos vor: Mit äußerst reduzierten Materialien und einem geschärften Sinn für Timing baut er attraktive Klanggebäude, deren Architektur durch metrische Versetzungen und fast unmerkliche, harmonische Wechsel in Spannung gehalten wird. Beispielhaft wirkt sich seine musikalische Empfindsamkeit im ersten Stück der B-Seite aus: „Music for Voice and Tape“. Die Art und Weise, wie Lemos hier Farben entzündet (so, wie man bengalische Lichter entzündet), erinnert an das kompositorische Verfahren Morton Feldmans, nur daß eben Paul Lemos‘ Musik lauter und blutvoller ist und die genau kalkulierten „dramatischen“ Effekte nicht vermeidet. Die Überraschung ist gelungen. o HENRY PURCELL:

Dido and Aeneas. Anne Sofie von Otter, Stephen Varcoe, Lynne Dawson, Nigel Rogers, Elisabeth Priday, Carol Hall, Sarah Leonard, Kym Amps. Choir of the English Concert. The English Concert, Trevor Pinnock. Archiv Produktion DG CD 427 624-2

Purcells einzige vollständig erhaltene Oper wird hiermit zum reinen Genuß ohne Reue freigegeben. Sie wurde zu Lebzeiten des Komponisten nicht gedruckt, was die Experten auf das Geflecht von politischen Anspielungen zurückführen, die sie in der antikisierenden Märchenoper ausmachen. Aber sie sind so ehrlich, zuzugeben, daß sie tatsächlich nichts darüber wissen. Sie ist einfach und raffiniert zugleich, abwechslungsreich, farbig - was immer man sich wünscht. Die Wiedergabe ist effektvoll und lebendig, die Besetzung ein Glücksfall, der Gesang anrührend und kraftvoll. Kein Grund, dabei ein Gespräch zu beginnen. Entweder - oder.