Krise und Reform in der DDR

Beitrag von Dr.Rainer Land, SED-Reformer von der Humboldt-Universität  ■ D O K U M E N T A T I O N

Dr. Rainer Land ist Dozent für Philosophie an der Humboldt -Universität und seit 19 Jahren SED-Mitglied. Lands Überlegungen sind von einer Wissenschaftlergruppe erarbeitet worden, dem Forschungsprojekt „Philosophische Grundlagen der Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus“. Sie wurde in der taz vom 9.11. vorgestellt. Der Gruppe wird ein erheblicher theoretischer Einfluß in dem reformerischen Flügel der SED nachgesagt. Wir danken für die Erlaubnis zum leicht gekürzten Nachdruck dieses Artikels, der ursprünglich in der 'Leipziger Volkszeitung‘ vom 11./12. November erschienen ist.

Den seit dem Sommer ausbrechenden Flucht- und Protestbewegungen liegen nicht nur ein paar angestaute Probleme zugrunde, die durch eine Art Gesprächstherapie ausgeräumt werden können. Es handelt sich vielmehr um fehlerhafte Strukturen der Ökonomie und Politik, die zu einem lernunfähigen System verkrustet sind. Der Übergang vom Kampf um die Macht, um ihre Sicherung in der Revolution und den ersten frühen Schritten der Übergangsperiode zu einem entwicklungsfähigen Sozialismus, bei dem Macht nicht Selbstzweck wird - weder die Macht der Partei, schon gar nicht die einer Personengruppe -, sondern zu dem Mittel der Individuen, mit dem sie die Entwicklung ihrer eigenen Lebenstätigkeit progressiv gestalten, dieser Übergang gelang nicht. Es gab Schritte dahin: Der XX. und XXII. Parteitag der KPdSU, der Prager Frühling 1968, die die große Chance eines von einer marxistisch-leninistischen Partei geführten Wandels boten und die Unterstützung durch viele Menschen im In- und Ausland fanden. Kalte Krieger in West und Ost, die sich eine Gesellschaft ohne Feindbilder nicht denken und in einer solchen nicht leben konnten, haben das Scheitern dieser Prozesse zu verantworten. So kam es zu den zentralistischen, machtdominierten, monolithischen Gesellschaftssystemen, die nicht Raum für die kreative Entwicklung der Individuen schufen, sondern in denen Menschen funktioniert wurden für die Sicherung der Macht.

In der DDR war die mit dem VIII. Parteitag angeschlagene Richtung ein Versuch, wirtschaftliches Wachstum für den sozialen Fortschritt der Individuen nutzbar zu machen und so eine höhere Etappe der Entwicklung einzuleiten. Dieser Schritt zur Aufhebung der machtdominierten Unterordnung der Individuen versandete aber zu einer Geschenkpolitik ohne hinreichende Triebkräfte für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt, weil er nicht mit grundlegenden demokratischen Umgestaltungen verbunden war, keinen wirklich autonomen Raum für die Selbstentwicklung und Selbstbestimmung der Individuen, für Kreativität und Individualität schuf. Wirtschaftsreformen ohne demokratische Reformen des politischen Systems mißlangen auch in anderen sozialistischen Ländern. Ökonomische Innovativität und Effektivität entstehen nicht ohne qualitativen sozialen Wandel, ohne Entwicklung neuer Bedürfnisse und Interessen der Subjekte in einem ständig geführten demokratischen Diskurs. „Zustimmungsdiskussionen“ machen Entwicklungsfähigkeit kaputt.

Eine der Lehren aus den Umgestaltungsprozessen anderer sozialistischer Länder ist, die erforderliche grundlegende Umgestaltung der Wirtschafts- und Sozialreform nicht vor und auch nicht zeitgleich mit politischen Reformen zu machen, sondern eine gewisse Konsolidierung der politischen Reformen und der damit einhergehenden Interessenkämpfe zu gewährleisten. Erst wenn ein mehrheitlicher Konsens und politische Legitimität erreicht sind, erst wenn die Richtungen des Umbaus der Wirtschafts- und Sozialentwicklung in einem breiten öffentlichen Diskurs erarbeitet werden, kann mit tiefgehenden Wirtschaftsreformen begonnen werden, ohne daß diese permanenter Zankapfel von Machtkämpfen werden und daran scheitern. Bis dahin sind allerdings vorbereitende Wirtschaftsreformen nötig, die durch den Abbau von Verschwendungspotentialen die Wirtschaft stabilisieren und Reserven für den Umbau freimachen.

Politische Reformen haben unseres Erachtens auch deshalb den Vorrang, weil nur in einem wirklich demokratischen und legitimierten politischen System Reformen von unten erarbeitet werden können. Der Umbau des politischen Systems muß zu einer lern- und entwicklungsfähigen demokratischen Gesellschaftsorganisation führen, deren Mittelpunkt nicht die Macht des Staatsapparates, sondern die Räume für die freie Selbstentwicklung und Selbstbestimmung gesellschaftlicher Individuen sind, Menschenrechte politische wie soziale - und die Unterordnung der gesellschaftlichen Mächte unter das Ziel, die Wirklichkeit dieser Rechte zu gewährleisten, stehen daher notwendig im Zentrum der Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Staats- und Rechtsordnung.

Wir plädieren für die Gesellschaftsgestaltung im Rahmen einer Verfassungsdiskussion, weil dies ausschließt, nur an einzelnen Gesetzen, Regelungen und Strukturen zu flicken, sondern auf das Grundmuster politischer Macht und ihr Verhältnis zum Individuum zielt. Zum anderen gewährleistet eine solche Verfassungsdiskussion einen zivilisierten Charakter - mindestens der Gewaltlosigkeit - dieses ja fundamentale Interessen tangierenden Umbauprozesses.

Grundvoraussetzung ist aber, die bisherige Praxis administrativer Verflechtung von Partei- und Staatsapparat die im übrigen der gültigen Verfassung der DDR widerspricht

-zu durchbrechen, der SED die Möglichkeit zu nehmen, außerhalb der dafür verfassungsmäßig vorgesehenen Wege in staatliche Entscheidung und Macht einzugreifen. Dieser Schnitt ist nötig, damit das politische System für eine Reorganisation offen wird. Die SED muß in Zukunft ihre Politik verwirklichen, indem sie Konzepte und Positionen in die Öffentlichkeit einbringt, Mehrheiten sammelt und in den dafür verfassungsmäßig vorgesehenen Organen - den Volksvertretungen, der Volkskammer - ihren durch Wahlen legitimierten Einfluß auf staatliche Willensbildung geltend macht.

Gelingt dieser Schritt, so kann im Dialog eine Neubestimmung der politischen Standorte der verschiedenen Teile der Bevölkerung und politischen Organisationen in Gang kommen. Ich bin optimistisch, daß eine Mehrheit für die Erneuerung des Sozialismus zu finden ist und wir durch überzeugende Positionen und Konzeptionen nachweisen können: Wege zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft bzw. Sanierung durch Anschluß an die BRD bedeuten keinen Fortschritt für die Bevölkerung der DDR wie der BRD, gefährden positive Entwicklung in Europa. Der Ausstieg aus der eigenen Identität und die Übernahme einer anderen können für beide Abstieg bedeuten.

Im Rahmen einer Verfassungsdiskussion - um die Neugestaltung unserer gegebenen Verfassung wie um die Ausgestaltung der Verfassungswirklichkeit - müssen dann Versammlungs-, Vereinigungs-, Demonstrations- und Medienfreiheit sowie Gewaltenteilung gesetzlich geregelt werden, sollten ein Parteiengesetz und ein neues Wahlgesetz erarbeitet werden. Wir haben dafür ein Verhältniswahlrecht vorgeschlagen. Die Nationale Front könnte sich in ein Gremium zur Vereinbarung gemeinsamer Regeln des Wahlkampfes und der Wahl selbst sowie zur gegenseitigen Kontrolle umgestalten. Wichtig ist, daß sich alle an den Wahlen teilnehmenden Kräfte einigen, die staatliche Souveränität der DDR zu schützen, andere Staaten nicht für ihren Wahlkampf zu nutzen und keine Unterstützung von außen anzunehmen. Die Einheitsliste ist u.E. nicht mehr legitimiert; eine Wahl nach dem alten Muster - mit mehr oder weniger Schönheitsreparaturen - würde nicht akzeptiert, brächte keinen Konsens für eine Politik, die Umgestaltung zu verwirklichen hätte und die substantielle Interessen aller Bevölkerungsgruppen betrifft.

Parallel zu diesen Prozessen wäre der Diskurs zur Reorganisation der Wirtschafts- und Sozialentwicklung zu führen und ein umfassendes Programm entsprechender Reformen zu erarbeiten. Es müßte von einer breiten Mehrheit getraten werden und dürfte in den Grundrichtungen des Umbaus der Lebensweise der Bedürfnisstrukturen, der Wirtschaftsweise und der damit verbundenen sozialen Wirkungen von keiner sozialen Gruppe unserer Gesellschaft blockiert werden.