piwik no script img

Ist es das?- Der 9. November und danach

Der 9.November und danach

Wieso kam eigentlich die „Revolution“ in der DDR so unerwartet? Seit Bestehen der DDR wurde sie in der Schule vorbereitet. Revolutionäre Erziehung - revolutionäres Gedankengut standen doch auf dem Stundenplan. (...)

Es ist nur konsequent, daß die Bevölkerung so beharrlich ihre Forderungen vertritt, sie hat schließlich ein Recht darauf, ihre politische Erziehung, ihr Schulwissen anzuwenden, auch wenn der Gegner im eigenen Land, in den eigenen Reihen gefunden wird.

Daß die Klassenfeinde die Machthaber im Staate sind, war schon lange bekannt. Das Volk hat sich seinen eigenen Reim auf die verlogenen Programme gemacht, es hat sich selbständig entwickelt (indirekter Stundenplan), es ist tatsächlich kritikfähig geworden. Es hat das Klassenziel der sozialistischen Erziehung erreicht.

So steht der Klassenfeind nicht mehr im Westen, sondern im eigenen Land. Obwohl - man weiß auch den Westen kritisch einzuschätzen. Das Neue Forum fürchtet den Ausverkauf an den Kapitalismus. Und wer im Brennpunkt (ARD vom 8. November) den Aufsichtsratsvorsitzenden von Thyssen auf die DDR als Billiglohnland „geiern“ gesehen hat, weiß, daß diese Befürchtungen nicht unbegründet sind.

Die Vorstellungen in der BRD differieren doch sehr stark von den Vorstellungen der DDR.

Die Ausreisewelle verstärkt diese Unterschiede. Da sind einmal die, die unter Sozialismus etwas anderes verstehen als die Regierenden und diesen Sozialismus im „ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden“ verwirklichen wollen. Und da sind die, die im Sozialismus keine reelle Chance sehen, ein Leben nach ihren Vorstellungen zu führen.

Die, die bleiben, werden in ihrem Kampf zumindest durch die groß aufgemachte Medienkampagne des Westens unterstützt. Obwohl - die Medien im Westen wissen vielfach gar nicht, über was sie berichten (die PolitikerInnen erst recht nicht) - sie faseln von Wiedervereinigung, einer Wiedervereinigung in einem „marktwirtschaftlichen“ System natürlich. Und die westdeutsche Linke? Sie ist erst einmal sprachlos. Für sie war der real existierende Sozialismus zu lange verbunden mit einem Mythos von Marxismus, mit einem Fetisch. Sie hat die Signale des Aufbruchs nicht erkannt und nicht erkennen können - einem Mythos kommt man nicht auf die Spur, an einen Mythos kann man nur glauben. Daher war die DDR „Terra incognita“, exotischer und fremder als die Revolution in Nicaragua zum Beispiel.

Woher soll sie daher wissen, daß die Revolution, die zur Zeit statt mit Blut mit Kerzenwachs ausgetragen wird, schon seit Jahren vorprogrammiert war: Sie stand in den Schulbüchern.

Die Revolution ist ein Sieg der sozialistischen Erziehung! Und daher wollen die, die bleiben, bestimmt keine Wiedervereinigung, keinen Ausverkauf ihrer Heimat an den Kapitalismus.

G.Kantel, Berlin 44

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen