: „Feuert's Magazin leer bis zur letzten Mumpel!“
Als am 9. Oktober in Leipzig Tausende demonstrieren, wird um 15 Uhr 30 Munition an bewaffnete Einheiten verteilt / Orchesterchef Masur bewegt SED-Bezirkssekretäre zum Einlenken / Doppelspieler Krenz wartet ab - eine taz-Recherche ■ Aus Leipzig A. Smoltczyk
Über das, was am 9. Oktober in Leipzig geschah, liegt wie über vielen wirklich historischen Daten dichter Nebel. Klar ist bisher nur: Dieser Tag war der Wendepunkt der Wende. Zur Zeit versucht die SED, durch Zeitungsartikel den Eindruck zu erwecken, Egon Krenz habe durch beherztes Eingreifen vor Ort den von Honecker unterzeichneten Schießbefehl verhindert und damit ein neues Tienamenmassaker.
Recherchen der taz in Leipzig, Befragungen von Zeugen und Beteiligten ergeben ein anderes Bild: Krenz ist weder am 9. Oktober in Leipzig gewesen noch hat er rechtzeitig eingegriffen. Als Krenz reagierte, war schon alles vorbei. Wenn es in Leipzig nicht zu einer „chinesischen Lösung“ der „konterrevolutionären Umtriebe“ gekommen ist, so liegt es an der Eigeninitiative von drei unteren Bezirkssekretären, drei Künstlern - und dem Mut der Leipziger.
Am Samstag, dem 7.Oktober feierte die DDR ihren vierzigsten. Auf viele, die nicht mitfeiern wollten, wie jene 4.000 für Bürgerrechte demonstrierenden Leipziger, wurde mit aller Gewalt reagiert. Der Einsatzbefehl kam von ganz oben, aus dem Politbüro, wo Egon Krenz für Sicherheitsfragen zuständig war. Ziel: die „konterrevolutionären“ Proteste „mit allen Mitteln“ niederzuschlagen. Im Leipziger Nikolaikirchhof knüppelten Volkspolizisten auf Ohnmächtige ein; Verletzte wurden in die Pferdeställe des „agra„-Messegeländes gesperrt. Der Einsatzleiter Generaloberst Straßenberg, Leiter der Bezirksbehörde der Volkspolizei, heute über diesen Tag: „Ich schäme mich.“
Trotz der Prügelei vom Samstag halten die kirchlichen Gruppen daran fest, auch am Montag ihre Friedensgebete abzuhalten - und das, obwohl am Freitag in der 'Leipziger Volkszeitung‘ ein Hundertschaftsführer demonstrativ erklärt hat, gegen jede „staatsfeindliche Aktion“ vorzugehen, „wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand“.
Am Sonntag abend erhält die Leipziger Kirchenleitung einen Anruf aus Dresden. Dort habe sich eine oppositionelle „Gruppe der 20“ gebildet, die mit dem Stadtrat sprechen konnte - ein erstes Zeichen der Dialogbereitschaft von lokalen Parteifunktionären. Doch zur gleichen Zeit werden am Leipziger Güterbahnhof große Behälter mit Tränengas ausgeladen und hinter Gewandhaus und Stasigebäude deponiert.
Montag, der 9.Oktober. Der Einsatzbefehl für diesen Tag ist, so LDPD-Chef Manfred Gerlach, von Staats- und Parteichef Honecker persönlich unterzeichnet: „Die konterrevolutionären Demonstrationen in Leipzig (sind) mit aller Gewalt“ niederzuwerfen. Einem Pfarrer der Thomaskirche ist versichert worden, man werde „nicht als Angriffshandlung“ schießen. Anders gesagt: bei einem Angriff der Demonstranten auf staatliche Gebäude oder Staatsorgane würden Schußwaffen eingesetzt.
Weil sich am Montag zuvor die Betriebskampfgruppeneinheit der Essener Straße geweigert hatte auszurücken, werden Sicherheitskräfte von auswärts, so aus Neubrandenburg, angefahren. In der Georg-Schumann-Straße, der Ausfallstraße in Richtung Schkeuditzer Kreuz, werden Reihen von Lastwagen der Nationalen Volksarmee gesehen. In zumindest einer Turnhalle wird beobachtet, wie uniformierte Soldaten das Gebäude betreten und darauf als Zivilisten verlassen.
Westlichen Journalisten ist die Stadt verboten. Nur unbestätigte Gerüchte gibt es über Panzer, die Position am Stadtrand bezogen haben sollen, etwa auf dem „agra„-Gelände. In Wahren, im Nordwesten der Stadt, sollen Panzer in unmittelbarer Nähe zur Kaserne der Roten Armee in der Linkelstraße von Eisenbahnwaggons abgeladen worden sein. Dies ist allerdings kein ungewöhnlicher Vorgang, da Wahren der einzige Verladebahnhof mit geeigneter Rampe ist. Anwohner der Linkelstraße haben kein Anzeichen für verstärkte Aktivitäten der Roten Armee feststellen können.
18 Patronen pro Mann
Um 13Uhr gibt die SED-Bezirksleitung einen Befehl an die Grundorganisationen der Innenstadt aus: alle männlichen Parteimitglieder sollen „die Nikolaikirche besetzen“. Den Genossen wird ein Schnellehrgang in pietätvollem Benehmen erteilt: im Gotteshaus kein Hut, kein Parteiabzeichen und kein Applaus. Eine Stunde später sitzen einige hundert SEDler in der Kirche und harren der Dinge, die da kommen mögen.
Währenddessen wird hinter dem Bahnhof nach Aussage eines Zeugen gegen 15 Uhr 30 scharfe Munition an eine Einheit aus der südlichen DDR verteilt: 18 Patronen pro Mann. Die Weisung des Mannschaftsführers: „Und wenn was kommt, dann feuert ihr das Magazin leer bis zur letzten Mumpel.“
In den Krankenhäusern, so im Bezirkskrankenhaus St. Georg, sind seit Freitag Betten bereitgestellt und 2.500 Blutkonserven vorbereitet. Verletzte, so die Weisung an die Ambulanz, seien nur in staatliche, nicht in kirchliche Krankenhäuser zu transportieren. Müttern, die ihre Kinder in den Kindergärten der Innenstadt haben, wird nahegelegt, die Kleinen bis 15Uhr abzuholen.
In der Nikolaigemeinde rufen den ganzen Tag pausenlos Menschen an, die in Telefonzentralen arbeiten oder sonstwie über Informationen aus dem Apparat verfügen. Der Tenor ist stets der gleiche: Es würde geschossen werden, die Pfarrer sollten die Bürger warnen und schützen.
Ab 15Uhr sind die Schutzorgane postiert. Die Bereitschaftspolizei ist mit Helmen, Schilden, Knüppeln und Gasmasken ausgestattet. Gleichzeitig sind Hundestaffeln im Einsatz. Zehn Lastwagen der Volkspolizei stehen am Ring, Ecke Jahn-Straße. Sonst gehört die Stadt den Betriebskampfgruppen, die seit Freitag in Bereitschaft versetzt sind, um „Provokationen konterrevolutionärer Kräfte wie Neues Forum und Demokratischer Aufbruch sowie Brandanschläge gegen die Betriebe“ zu verhindern. Um elf Uhr erhält die Betriebskampfgruppe des Kombinats „Polygraph“ den Befehl zum Einrücken.
Diese paramilitärischen Truppen, die direkt der SED -Bezirksleitung unterstehen, werden in Ringen um die Innenstadt postiert. Nicht alle sind bewaffnet, doch bei der Hauptpost am Karl-Marx-Platz werden Kalaschnikowmaschinengewehre abgeladen. Die Kampfgruppe des Baukombinats am Nikolaikirchhof etwa wird erst gegen zehn Uhr abends ihre Waffen geschlossen wieder abgeben. Der Einsatz läuft planmäßig.
Am Montag vormittag ist eine Probe des Gewandhausorchesters zu „Till Eulenspiegel“ von Johann Strauß angesetzt. Der Orchesterleiter Kurt Masur weigert sich, den Eulenspiegel zu proben, „während draußen ein Massaker stattfinden kann“. Er wird vom Orchesterrat beauftragt, eine Initiative zum Dialog zu ergreifen.
Der Dirigent greift ein
Masur nimmt per Telefon Kontakt auf zu Freunden, die bei den Leipzigern Popularität besitzen oder über Einfluß verfügen: zum Theologen von der kirchlichen Hochschule Peter Zimmermann, zu dem Kabarettisten und Autor Bernd-Lutz Lange sowie zu den SED-Bezirkssekretären für Volksbildung (Roland Wötzel), Propaganda (Jochen Pommert) und Kultur (Kurt Meyer). Die sechs treffen sich um 14 Uhr 30 im Hause Masurs und verfaßen „aus gemeinsamer Sorge und Verantwortung“ eine Erklärung: „Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität einzusetzen, daß dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.“
Von der Initiative der drei Bezirkssekretäre weiß zu diesem Zeitpunkt weder Egon Krenz noch die Bezirksleitung der SED. Der erste Sekretär des Bezirks ist ohnehin krank. Erst um halb fünf wird das Sekretariat der Bezirksleitung, das sonst alle Entscheidungen zu treffen hat, von dem öffentlichen Dialogangebot der drei (in der Nomenklatura zweitrangigen) Bezirkssekretäre unterrichtet.
Es muß angenommen werden - Beweise liegen bislang nicht vor - daß der zweite Sekretär der Bezirksleitung sich unter Zugzwang genommen fühlt und der Masur-Initiative sein Placet gibt. Auf alle Fälle wird die Bereitschaftspolizei gegen 17 Uhr 45 vom Ring abgezogen. Nur hinter dem Stasigebäude steht noch eine Hundertschaft von Volkspolizisten.
Mittlerweile hat das Friedensgebet in vier Kirchen gleichzeitig begonnen. 6.000 Menschen haben Platz in den Kirchen gefunden, Tausende stehen vor den Türen. Es werden Erklärungen verlesen: die katholischen Priester haben ihre Unterstützung zugesagt, alle oppositionellen Initiativen rufen zu absoluter Gewaltlosigkeit auf.
Dann kommt Mitunterzeichner Peter Zimmermann in die Nikolaikirche und läßt die Erklärung der „Sechs von Leipzig“, wie sie später genannt werden, verlesen. Das Schlußwort spricht Landesbischof Hempel. Er ist mittags in den Rat des Bezirkes gerufen worden, wo ihm der „Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres“, Dr. Reitmann, sagt: „Halten Sie die Demonstration auf, indem Sie ein Angebot wie das der Gruppe der 20 in Dresden machen“. Als Hempel die Menschenmenge vor der Nikolai- und den anderen Kirchen sieht, wird ihm klar, daß niemand die Demonstration aufhalten kann. So erklärt sich das fast verzweifelte Insistieren seines Appells auf absolute Gewaltlosigkeit: „Es kann Situationen geben, in denen das Leben wertvoller ist als die Freiheit. Ich hoffe, ich bitte, ich flehe, daß diese Nacht in Leipzig vorübergeht ohne schlimme Dinge.“
Die Menschen in der Kirche reden nicht miteinander, sie stehen auf und gehen hinaus auf den dicht besetzten Nikolaikirchhof, obwohl viele damit rechnen, „niedergeschossen zu werden“. Die Menge setzt sich in Bewegung, ohne Sprechchöre, und geht langsam auf den Ring zu. Siebzigtausend sind es jetzt. Provokateure werden von den Demonstranten eingekreist und abgedrängt. Zum ersten Mal kommt es zu Gesprächen mit den Betriebskampfgruppen. Das ist die Wende.
Egon Krenz wird am 17.November sagen: „Ich war in Leipzig und habe dort erklärt: Wir sind dafür, politische Konflikte auch politisch zu lösen. Und ich habe dort in Leipzig mitgeholfen, daß diese Dinge auch so gelöst worden sind.“
Von den „Sechs“, von Kirchenkreisen und auch von der Bezirksleitung wird allerdings einstimmig ausgesagt, daß Krenz zwar in Leipzig war, doch erst am darauffolgenden Freitag, dem 13.Oktober. Es gab lediglich ein Telefongespräch um 19 Uhr 15 zwischen Krenz und der Bezirksleitung, in dem Krenz sich hinter die Initiative von Masur und Wötzel stellte. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings schon alles vorbei.
Kirchenkreise in Leipzig vermuten daher, daß Krenz am 9.Oktober ein doppeltes Spiel gespielt hat. Wäre es zu Schießereien gekommen, hätte Krenz die Schuld auf die alte Garde geschoben und sich zum Wandlitzer Gorbatschow erklärt; als sich jedoch zeigte, daß die Leipziger Demo friedlich verlaufen würde, erteilte er gerade noch rechtzeitig seinen Segen, um sich als heimlicher Dirigent der Wende in die Geschichtsbücher zu schmuggeln.
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