Ein ehrwürdiger Verein wird 101

■ Nach den Recherchen ist der Berliner Mieterverein älter als vorher / Mit dem Kampf für Windeln begann es / Zur Nazi-Zeit herrschte KZ-Ruhe / Momper appelliert an Hausbesitzer

Das „Dreikaiserjahr“ 1888 mit dem Wechsel von Wilhelm I. über Friedrich III. zu Deutschlands letztem Kaiser Wilhelm II. brachte nicht nur für die sogenannte große Politik gravierende Veränderungen: Während sich Wilhelm II. mit dem Streben nach einer deutschen Weltmacht übernahm, gründeten in der Reichshauptstadt mehrere Männer den „Verein Berliner Wohnungsmiether“ und nahmen sich damit der drängenden Wohn -Probleme im ausufernden Berlin an. Der Verein kämpfte anfangs vor allem gegen ausgekochte Mietverträge.

Gestern feierte der „Berliner Mieterverein“ als Nachfolgeverband sein 101jähriges Bestehen. Das krumme Jubiläum kam dadurch zustande, daß der Verband erst beim Recherchieren über die eigene Vergangenheit entdeckte, daß er 30 Jahre älter ist, als angenommen.

Die ursprünglich sehr bürgerlich geprägte Organisation leistete Pionierarbeit, um das Leben der Menschen erträglicher zu machen. Das Jahr 1890: Bei Untersuchungen wird klar, daß die Rechte verarmter Mieter gegenüber den Ansprüchen von Vermietern nichtig sind: So kam es bei Pfändungen vor, „daß der Wirth der Frau des Miethers nicht einmal gestattet hat, neben der nassen noch eine trockene Windel für ihren Säugling mitzunehmen“, wie der damalige Vorsitzende schrieb.

Obwohl Sozialdemokraten und Mietervereins-Vertreter die Mißstände politisch verändern wollen, befehden sie sich jedoch oft bei der Kandidatenkür zum preußischen Parlament. Gemeinsam unterstehen sie dank Bismarcks „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Umtriebe der Sozialdemokratie“ einer ständigen Polizeiaufsicht.

Nach dem 1. Weltkrieg wird die Wohnungsfrage ebenso politisiert wie die Mieterbewegung selbst. Der damals 30 Jahre alte Verein geht 1918 im Zusammenschluß zum „Mieterbund von Groß-Berlin“ auf. Aus den kleineren bürgerlichen Honoratiorenvereinen der Kaiserzeit werden jetzt große Kampforganisationen. 1920 demonstrieren im Lustgarten über 10.000 für Kündigungsschutz und gegen Mietwucher; ein Jahr später treten die kommunistisch orientierten Mieter aus dem Bund aus. Die verbleibenden sogenannten „reformistischen“ Gruppen erreichen vor allem das Mieterschutzgesetz von 1923, das Kündigung ohne Verschulden des Mieters untersagt.

Bereits 1933 werden die deutschen Mietervereine im „Mieterbund Dresden“ zusammengeschaltet. Der Gleichschaltungsbeauftragte Grünwald verkündet 1933 pauschal die „Bestrafung der marxistischen Führer in den KZ's“. Ohne Hilfe bleiben speziell jüdische Mieter daher auch dann, als ihre Rechte immer schneller aufgehoben werden.

Weitgehend unpolitisch blieb nicht nur der 1949 wieder zugelassene Berliner Mieterverein in den ersten Jahre nach dem Krieg, als Faktoren wie Notgemeinschaft und Kommunistenfurcht die Beschränkung auf ganz direkte Wohnungsthemen bewirkten. Nach einem Generationenwechsel an der Spitze und durch Basisinitiativen und Hausbesetzerbewegung erlebt der jetzt 50.000 Mitglieder zählende Bund einen starken Aufschwung auch als öffentliches Forum. So appellierte Walter Momper gestern anläßlich des 101. Geburtstages mit etwas scheinbar zeitlos Aktuellem an die Hausbesitzer: Sie sollten „nicht ausnutzen, was am Markt derzeit eventuell auszunutzen wäre.“

Karsten Peters