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WUNSCH-GETRIEBE

■ Die Butoh-Legende Kazuo Ohno

In „Admiring La Argentina“, einem Solostück des japanischen Tänzers Kazuo Ohno, spricht der Butoh die Körpersprache der Besiegten, Verletzten und Demütigen. In einem der fünf Bilder - „Hochzeit von Himmel und Erde“ - lehnt der bis auf eine kurze Hose nackte und über achtzig Jahre alte Mann am Flügel, Hände und Gesicht in einer suchenden und um Bestätigung bittenden Geste aufwärtsgewandt. Ein bißchen Haut und Knochen, belebt von einem Luftstrom, der die Rippen auseinanderdrückt und wieder zusammenfallen läßt - viel mehr scheint der Mensch nicht zu sein. Aufrecht erhalten ihn seine Projektionen, Visionen von einer stolzen, leidenschaftlichen und lebenshungrigen Erscheinung: „La Argentina“. Ohno nimmt die weitzurückliegende Erinnerung an den Auftritt einer spanischen Flamenco-Tänzerin zum Leitmotiv seiner Sehnsucht und Motor des Aufbegehrens. Jede weitausholende Geste des Pathos aber zerbricht an der Erbärmlichkeit des Körpers, wird klein, schamhaft und krumm wieder zurückgenommen und berührt gerade deshalb. Welk knicken seine Hände an den Gelenken ab; einige taumelnde Schritte in hochhackigen Schuhen schmerzen fast physisch, so sehr vermeint man die Gelenke schon knirschen zu hören und fürchtet um die Haltbarkeit der brüchigen Knochen.

Kazuo Ohno, der inzwischen die Legende des Butoh verkörpert, begründete in den fünfziger Jahren in Japan zusammen mit Tatsumi Hijikata den Butoh-Tanz. Ohno war vor dem Zweiten Weltkrieg von einer Wigman-Schülerin im Ausdruckstanz unterrichtet worden. Im Nachkriegsjapan, das sich in Ethik, Tradition und Kunst vor einem Scherbenhaufen seiner alten Werte sah, suchte er - in Abwendung vom teilweise euphorisch betriebenen „Neuen Tanz“ deutscher Prägung ebenso wie vom „modern dance“ als Teil eines alle Konflikte zukleisternden Showbusineß aus Amerika - nach eigenständigen Ausdrucksformen, die sowohl an die spirituelle Tradition des klassischen japanischen Theaters anknüpften wie auch durch ihre Technik der Improvisation und der Auflösung geregelter Formen ermöglichten, das subjektive Erleben des Tänzers in den Mittelpunkt zu stellen. Kazuo Ohno, den die vom Authentizitäts-Virus infizierte Berliner Tanz-Szene als grauen und weisen Urvater verehrt, wurde für das jetzige Gastspiel vom Theaterhaus e.V. Berlin in die Akademie eingeladen. Damit beginnt die Reihe TanzWinter Berlin 89/90, die die Akademie der Künste, das Hebbel -Theater, die Tanzfabrik und das Theaterhaus Berlin gemeinsam veranstalten.

Die schmerzhafte Differenz zwischen dem Traum des Wachsens und dem Erleben des Verfalls, zwischen Erinnerung und Gegenwart, läßt „Admiring La Argentina“ vibrieren und verleiht dem Tanz große Zartheit. In der Musik evozieren zuerst Puccini-Arien, gesungen von Maria Callas, die große Entfernung, die den alten Mann von seinen Wünschen trennt. Am Ende lebt er in einem flattrigen und zippeligen Kleid, das aus dem staubigsten Winkel des Fundus gezerrt scheint, zu Tangomelodien auf: die weiß geschminkte Maske des Erschreckens entzerrt sich, die gichtige Starre der Glieder löst sich und aus übermütigen und plötzlichen Schlenkern der Hände, angedeuteten Hüpfern und winzigen Arabesken entsteht ein Tanz mit einem eigenen, verzögerten Rhythmus. Zwar wirkt die Travestie des alten Japaners, der einer spanischen Diva huldigt und sich in ihren aufgezehrten Körper versetzt, manchmal komisch, nie aber peinlich. „Als ob die Teile eines ausgedienten Autos neu montiert worden und noch einmal in Gang gekommen wären ... Selbst der Gedanke daran läßt mein Herz schon schneller schlagen. Der Augenblick äußerster Müdigkeit, wenn eine extreme Anstrengung den Körper wieder aufrichtet: Das ist der wahre Ursprung des Butoh, Tod und Wiedergeburt. Das Glück trotz des hohen Alters in Gang zu bleiben. Die Toten beginnen zu laufen.“ Nach dieser Definition des Butoh von Kazuo Ohno gibt er in „Admiring La Argentina“ das Geheimnis seines Antriebes preis.

Katrin Bettina Müller

Kazuo Ohno und sein Sohn Yoshito Ohno zeigen heute um 21 Uhr in der Akademie der Künste „Seerosen“.

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