Hände an die Hosennaht

■ Das Interview mit „Mati“, erschienen am 21.März 1989 in 'Noorte Hääl‘

Noorte Hääl: Waren die ersten Tage beim Militär noch friedlich oder fingen die Einschüchterungen sofort an?

Mati: Zu Anfang war es tatsächlich einigermaßen friedlich. Jeder hatte Angst, und keiner wagte es, den Mund aufzumachen. Aber dann fingen die Brutalitäten ziemlich schnell an. Die schon ein halbes Jahr gedient hatten, begannen herumzukommandieren. Wenn ich ihren Befehlen nicht sofort Folge leistete, wurde ich beschimpft und auch geschlagen, aber noch nicht so schwer. Angesichts dessen, was in den letzten sechs Monaten passiert ist, kommen mir jetzt die ersten Monate Trainingszeit noch ganz angenehm vor. Man fängt langsam mit den Einschüchterungen an, und dann wird es stärker und stärker und stärker. Nach einiger Zeit hast du vergessen, daß du überhaupt noch ein Mensch bist.

Für die jungen Soldaten ist es nachts am schlimmsten. Die schwersten Prügel werden nachts ausgeteilt. Selbst, wenn einem nichts getan und man nur zum Zigaretten- und Wasserholen losgeschickt wird, ist es schon furchtbar genug. Besonders, wenn man die Nacht vorher auf war und Kartoffeln schälen oder am Speicherhaus Wache schieben mußte.

Sind nachts in deiner Kompanie denn keine Offiziere da?

Nach den Regeln im Ustav (Buch mit Vorschriften) ist es so, daß ein Offizier permanent für die Ordnung der Kompanie verantwortlich ist, einschließlich nachts. Aber die Offiziere haben Frauen und Kinder zu Hause. Sobald die Soldaten im Bett sind, gehen sie nach Hause. Dann wird gleich ein „Schuker“ (Soldat, der am Schlafsaaleingang Schmiere steht) an die Tür gestellt und die Männer werden einer nach dem anderen geweckt. Manche werden mit Fäusten geschlagen, andere mit Füßen getreten. Meistens geht es mit Fäusten ab, aber das ist auch schon ziemlich wirksam. Oft will einer zeigen, daß er eine ganz besondere Methode hat. Dann wird einer geweckt - egal, ob er sich was zu schulden hat kommen lassen oder nicht -, und alle möglichen Sachen werden an ihm ausprobiert. Meistens ist es so, daß die „Fasane“ (Soldaten, die ein Jahr oder mehr gedient haben) mitten in der Nacht eine große Mahlzeit abhalten. Sie essen und trinken und danach wecken sie jemanden, der hinterher sauber machen muß.

Hat Nationalität in der Armee eine Bedeutung?

In letzter Zeit ist es für Esten im Militärdienst ziemlich unangenehm geworden. Ständig kriegt man zu hören, daß diese verdammten (streikenden) Esten alle erschossen gehörten. „Sobald's mit der Perestroika anfing, mußtet ihr Unfrieden stiften.“

In unserer Kompanie gibt es zur Zeit drei aus Estland, ich bin der älteste, die anderen beiden sind ein halbes Jahr jünger, „Tscherpaks“. Ihnen ergeht es nicht besser als mir. Manchmal gibt es nachts das Kommando „Estontsy, podyom“ (Esten, Aufwachen). Nicht immer geht es gleich mit Schlägen und Liegestützen los. Es gibt andere Methoden, zum Beispiel, daß man herumlaufen muß, mit den Armen wedeln wie mit Flügeln und Vogellaute nachmachen. Dieser Terror ist oft grausamer und schrecklicher als das andere. Wer nicht gehorcht, wird zusammengeschlagen. Oder solange geschlagen, bis er anfängt zu rennen und zu piepen wie ein Vogel.

Bitte beschreibe mir einen besonders extremen Fall in deiner Kompanie, von dem du gehört oder den du gesehn oder gar selbst erlebt hast.

Solche extremen Situationen gibt es haufenweise. Alle Situationen sind extrem. Zum Beispiel hatten sich die Jungs letztes Jahr nach Neujahr Wein besorgt. Unsere Einheit ist in einer Gegend stationiert, wo es viele Weinberge gibt und deshalb viel Wein. Es gibt mehr Wein als Milch. Die Älteren tranken schon eine ganze Weile. Sie weckten mich und sagten, ich soll zu den „Dukhs“ gehen und einen bestimmten von ihnen wecken und ihm befehlen, Liegestützen zu machen. Was sollte ich tun; ich verstehe mich ganz gut mit ihnen und dachte, sie werden das schon verstehen. Der machte also ein paar Liegestützen und ging wieder zu Bett. Dann befahlen sie mir, einen anderen, der schon ein halbes Jahr länger da ist, zum Liegestützmachen zu kommandieren. Den ich da wecken sollte, das war einer von den Ruhigen, ohne Autorität. Ich weigerte mich, aber die vier schlugen mich, und schließlich weckte ich ihn. Irgendwie kam es dann soweit, daß am Ende ich mich mit diesem „Dembl“ schlug. Ich kann nicht besonders gut kämpfen und wollte ihn außerdem nicht richtig schlagen. Danach war mein Gesicht jedenfalls total geschwollen und blutig. Sechs böse Schrammen hatte ich im Gesicht. Man zwang mich, in den Waschraum zu gehen, und mich da sauberzumachen. Mein Kommandeur folgte mir; er war einer von diesen „Fasanen“. Er kam und befahl mir, in den Trockenraum zu gehen. Dort schlug er mich erst, dann wollte er sich durch meinen Anus sexuell befriedigen. Ich wehrte mich, war aber ziemlich benommen von den Schlägen. Und er befriedigte sich dann durch meinen Mund...

Was passierte am nächsten Morgen?

Der Morgen war furchtbar. Man wacht auf, und alles, was passiert ist, fällt einem wieder ein. Furchtbar! Die Offiziere merkten natürlich gleich, daß ich geschlagen worden war. Ich war bekannt als einer von denen, die mit Schlägereien ansonsten nie zu tun haben und einigermaßen gut ihren Dienst tun. Aber man deichselte es eben so, daß es aussah, als hätte es eine normale Schlägerei gegeben - und das war's. Bestraft wurden wir nicht.

Hat man dich später noch einmal auf dieselbe Weise erniedrigt?

Ja. Nachdem sie angefangen haben, jemanden zu terrorisieren, lassen sie einen nicht mehr in Ruhe bis zum Schluß. Es ist widerwärtig.

Passiert das oft?

Normalerweise geschieht es nachts, wenn kein Offizier in der Nähe ist. Der stellvertretende Zugführer hat mich oft geschlagen; er hat sich sozusagen das Recht des Kommandeurs genommen und mich oft erniedrigt. Und zwei andere einfache Rekruten auch. Sie machen es so, daß mich einer festhält, dann haben sie leichteres Spiel.

Du bist jetzt seit anderthalb Jahren bei der Armee. Du erlebst dies Tag für Tag. Wann ist das so schlimm geworden?

Mit der sexuellen Gewalt fing es Neujahr an. Aber wie ich am Anfang gesagt habe, moralisch wurde ich sofort eingeschüchtert, vom ersten Tag an. Das Schlimmste ist, daß du anfängst, dich schließlich selber für wertlos zu halten. Auf die Dauer gewöhnst du dich daran, für einen Idioten gehalten zu werden. Wenn ich versuche, mich zu verteidigen, dann ist das, als hätte ich losgeschlagen. Es gibt dafür ein Kommando, das heißt „Ruki po schwam“ (Hände an die Hosennaht), Hände weg. Und dann kannst du nichts mehr machen. Einfach gar nichts!