: Millionenfaches schlechtes Gewissen
Eine Rede des DDR-Filmregisseurs Frank Beyer über verbotene Filme ■ D O K U M E N T A T I O N
Am Donnerstag fand in einem Ostberliner Kino ein kurzfristig anberaumtes Pressegespräch statt. Geladen hatte Horst Pehnert, stellvertretender Kulturminister. Anlaß: Zwölf seit den sechziger Jahren verbotene DDR-Spielfilme, darunter Filme der Regisseure Frank Beyer und Kurt Maetzig und Filme nach Drehbüchern von Christa Wolf und Ulrich Plenzdorf, sollen innerhalb der nächsten zwölf Monate im großen Rahmen in den DDR-Kinos und dann im Fernsehen vorgestellt werden. Zum Teil handelt es sich dabei um Uraufführungen. Die Filme waren nach dem XI. Plenum des ZKs der SED im Jahr 1965 verboten worden. Der damalige ZK -Beauftragte für Jugend, Kultur und Sport, Erich Honecker, hatte auf diesem Plenum viele Künstler, Schriftsteller und Filmleute des „Skeptizismus“ und „Pessimismus“ beschuldigt. Konsequenz: Viele Künstler verloren ihre Arbeitsmöglichkeiten. Ein Rückfall in den Stalinismus. Frank Beyer, dessen Film „Spur der Steine“ (1966) mit Manfred Krug seit Donnerstag in den DDR-Kinos läuft, analysierte beim Pressegespräch die stalinistischen Strukturen, die zu solchen Verboten führten.
Warum waren diese Filme 23 Jahre lang verboten?
Ich will versuchen, darauf eine Antwort zu geben. Ich will beginnen mit dem Postminister und der Zeitschrift 'Sputnik‘. Das ist ein Beispiel für den Stalinismus in der DDR, unser Grundübel.
Der Postminister, so war im Oktober 1988 im 'ND‘ zu lesen, hat die Zeitschrift 'Sputnik‘ aus der Liste der in der DDR erlaubten Druckerzeugnisse genommen wegen verschiedener Artikel über Hitler und Stalin. Der Postminister hat im November 1989 versichert - und ich glaube ihm aufs Wort -, er habe von seiner eigenen Entscheidung erst aus dem 'ND‘ erfahren. Die 'ND'-Redakteure haben im November 1989 versichert - und ich glaube ihnen aufs Wort -, daß sie nicht am Verbot der Zeitschrift 'Sputnik‘ schuld sind. Schuld ist die Abteilung Agitation beim ZK der SED. Die Abteilung Agitation hat versichert - und ich glaube ihr aufs Wort -, daß sie die Zeitschrift 'Sputnik‘ nicht verbieten, sondern eine Diskussion in Gang bringen wollte über das Thema Hitler -Stalin. Aber der Generalsekretär habe dies unterbunden und das Verbot herbeigeführt. Vom ehemaligen Generalsekretär liegt in dieser Angelegenheit bisher keine Nachricht vor, aber ich würde ihm aufs Wort glauben, wenn er folgendes erklären würde: Er habe viele Jahre seines Lebens unter Hitler im Gefängnis verbracht, seine einzige Hoffnung sei gewesen, daß Stalin Hitler das Genick bricht. Diese Hoffnung habe sich erfüllt und damit auch die Hoffnung, den Sozialismus dauerhaft in Deutschland zu etablieren, wofür er, der Generalsekretär, sein Leben lang gekämpft habe. Es empöre ihn, wenn nun Stalin und Hitler in einen Topf geworfen würden oder gar wie im Falle der Zeitschrift 'Sputnik‘ behauptet würde, Hitler sei ohne Stalin gar nicht denkbar gewesen. Diese Geschichtsfälschung weiterzuverbreiten, habe er unterbunden.
Der Täter ist also ermittelt. Er hat meiner Meinung nach rein emotional gehandelt und damit falsch. Aber er hat in gutem Glauben gehandelt, und er hatte ehrenwerte Motive. Wir hören: Alle, außer einem, dem Generalsekretär, waren Opfer.
Die Täter-Opfer-Beziehung
Hat der Postminister sich 1988 zur Wehr gesetzt? Hat er seinen Rücktritt angeboten oder den Rücktritt derer gefordert, die auf solche Weise in seinen Bereich hineinregiert haben? Hat die Abteilung Agitation sich zur Wehr gesetzt, als ihr Vorschlag verworfen wurde? Und die 'ND'-Redakteure? Haben sie 1988 überprüft, ob die Nachricht, die sie gedruckt haben, der Wahrheit entsprach? Haben sie protestiert? Haben sie mit ihrem Rücktritt gedroht? - Sind die Opfer vielleicht gleichzeitig Täter?
Nach dem gleichen Muster, nur mit anderem Personal, wurden die fünf sowjetische Filme verboten, die jetzt wieder ins Kino kommen. Nach dem gleichen Muster, nur mit anderem Personal, wurde 1978 der Fernsehfilm Geschlossene Gesellschaft verboten.
Nach dem gleichen Muster, nur mit anderem Personal, wurde 1966 der Film Spur der Steine verboten.
Nach dem gleichen Muster, nur mit immer wechselndem Personal, wurden in der DDR 40 Jahre lang Bücher und Filme verboten.
Nach meiner Überzeugung muß man zunächst nicht über das Personal, sondern über die Strukturen der Machtausübung reden. Es sind die Machtstrukturen des Stalinismus, über die wir reden müssen und die wir vollständig und für immer zerstören müssen.
Diese Strukturen kamen 1945 auf den Bajonetten der Roten Armee ins Land. Der Stalinismus kam in der Gestalt des Antifaschismus ins Land. Es waren deutsche Antifaschisten, die ihn hier im Schutze der Roten Armee etablierten. Sie hatten den Sozialismus in Gestalt des Stalinismus in der Sowjetunion kennengelernt, und sie führten ihn in dieser Form in Deutschland ein.
Der Stalinismus stieß in Deutschland auf eine junge, desorientierte Generation von Nazianhängern und Mitläufern. Er stieß auf millionenfaches schlechtes Gewissen. Die Leute erkannten zwar, daß der Stalinismus zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem Faschismus hatte: dieselben Kommandostrukturen, das laute Eigenlob, dasselbe Gepränge und Brimborium und vor allem der Meinungsterror gegenüber Andersdenkenden. Aber sie wagten wegen ihres schlechten Gewissens nicht zu widersprechen. Wegen ihres schlechten Gewissens waren sie leicht gefügig zu machen. Die vollständige Abwesenheit von demokratischen Strukturen erleicherte das. Dann wurde durch den sogenannten „demokratischen Zentralismus“ jene Täter-Opfer-Beziehung etabliert, die ich am Falle 'Sputnik‘ beschrieben habe. Alle Täter sind gleichzeitig auch Opfer (bis auf einen, den großen Conducator). Viele Opfer sind gleichzeitig Täter oder zumindest potentielle Täter. Dadurch entstand ein unauflösliches System von Abhängigkeiten, eine Art Komplizenschaft. Und es entstand die Herrschaft der Apparate. Der demokratische Zentralismus mit dem immer größer werdenden Z und dem immer kleiner werdenden d machte sich breit. Minderheiten oder Einzelpersonen zwangen der Mehrheit ihre Meinung auf. Oder, in den Begriffen der parlamentarischen Demokratie gesprochen: Die Exekutive maßte sich immer mehr die Rechte der Legislative an.
Meinungsterror
Im Falle der Spur der Steine lief das so ab: Nach monatelangem Hin und Her hatten die Verantwortlichen im Politbüro und dem Sekretariat des ZKs den Film zur Aufführung freigegeben. Durch den Filmbeirat beim Minister für Kultur sollte diese Entscheidung offensichtlich demokratisch legitimiert werden. Der Filmbeirat erklärte sich tatsächlich mit erdrückender Mehrheit (gegen zwei Stimmen) für die Aufführung des Films. Der Film lief zu den Arbeiterfestspielen eine Woche lang im ausverkauften Kino in Potsdam. Er wurde für das Prädikat „besonders wertvoll“ vorgeschlagen und als DDR Wettbewerbsbeitrag bei den Filmfestspielen in Karlovy Vary gemeldet. Und er sollte Ende Juni, Anfang Juli mit 56 Kopien in der DDR gestartet werden. Alle diese Entscheidungen wurden Ende Juni rückgängig gemacht. Dazu liegt ein Telegramm aus dem Büro des Politbüros an alle ersten Bezirkssekretäre vor vom 30.6.1966.
Die Zulassung wurde dem Film entzogen. Der Filmbeirat wurde aufgelöst. Es fand eine Parteiaktivtagung im DEFA-Studio für Spielfilme statt. Dort wurde gesagt: Es geht ein Riß durch die Parteiorganisation des Studios. Es gibt die Ideologie der Partei, und es gibt die Ideologie der Macher, Freunde und Verteidiger dieses Films. Und nun hatte angeblich jeder die Wahl, sich zu der einen oder anderen Ideologie zu bekennen. Sie sehen, wir sind wieder mittendrin in der Täter -Opfer-Problematik. Mit einer Ausnahme bekannten sich alle zur Ideologie der Partei. Es gab viele, die sich an der Diskussion nicht beteiligten, manche waren ihr ferngeblieben.
Gab es keine Zivilcourage mehr im Lande? Doch. Sie ist natürlich unter solchen Umständen unterschiedlich entwickelt. Wer wenig zu verlieren hat, ist im allgemeinen couragierter als ein Privilegierter. Im Fall von Spur der Steine hat sich der ehemalige Präsident der Akademie der Künste, mein Regiekollege Konrad Wolf, bis zum Schluß dem Meinungsterror nicht gebeugt. Nicht wenige meiner Kollegen werden in einer tiefen Konfliktsituation gewesen sein, ich war es ja auch. Nun bietet der Stalinismus für diesen Fall einen fabelhaften Ausweg an: Disziplin. Im Statut der SED wird der Begriff Parteidisziplin im Zusammenhang mit der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit gebraucht und zwar ganz ausdrücklich nach freier Meinungsäußerung und nach Beschlußfassung. Jedoch hatten sich schon damals die Machtstrukturen soweit zugunsten des Apparats verändert, und Parteidisziplin wurde ständig abgefordert auch in Hinsicht auf Beschlüsse, die nicht demokratisch zustande gekommen waren.
Von nun an galt der Film Spur der Steine als partei und staatsfeindlich. Ich hätte es damals sicher anders formuliert - aber die Filme Spur der Steine und Das Kaninchen bin ich sind natürlich deshalb verboten worden weil sie versuchten, die Täter-Opfer-Beziehung im stalinistischen Sozialismus aufzudecken.
Wenn ich mich frage, warum diese Verhältnisse bis vor wenigen Wochen aufrechterhalten werden konnten, fallen mir 3 Gründe ein:
1. Die sowjetischen Panzer im Lande. Diese Panzer stehen zwar schon mehrere Jahre nicht mehr als Unterdrückungspotential zur Verfügung, nämlich seit sich Glasnost und Perestroika in der SU durchsetzten, aber es mußte wohl eine Zeitlang vergehen, bis das Volk die neuen Möglichkeiten begriff, Demokratie zu erzwingen.
2. Weil es Antifaschisten waren, die den Sozialismus stalinistischer Prägung bei uns eingeführt haben. Man hätte Antifaschisten bekämpfen müssen, um den Stalinismus zu bekämpfen. Das wollten viele nicht. Es gibt einen großen Respekt im Lande vor denjenigen, die viele Jahre ihres Lebens in der Emigration oder in Gefängnissen und Lagern verbringen mußten. Dieser Respekt sollte auch aufrechterhalten werden, bei aller notwendigen Diskussion über tiefgreifende Veränderungen im Lande.
3. Jeder, auch der kleinste Auflehnungsversuch wurde vom Machtapparat sofort unterbunden. Das Protestpotential wurde immer wieder, wenn es sich auch nur im Ansatz zeigte, zerstreut. Wer sich auflehnt wird isoliert, aus dem Lande gedrängt, ausgebürgert. Die lange Reihe von Namen beginnt nicht erst mit Ernst Bloch, Mans Mayer und Wolf Biermann, und sie endet nicht mit meinen Freunden Jurek Becker und Klaus Poche, Jutta Hoffmann, Manfred Krug und Armin Mueller -Stahl, sie endet mit Zehntausenden junger Leute, die das Land seit dem Sommer verlassen haben und es noch immer verlassen und die wir so bitter nötig brauchten.
Die zwölf Filme (manche sind noch nie aufgeführt worden, manche liegen nur in Arbeitsfassungen vor): Das Kaninchen bin ich (1965, nicht aufgeführt), Regie: Kurt Maetzig; Der Frühling braucht Zeit (1965, nach der Premiere verboten), Regie: Günter Stahnke; Denk bloß nicht, ich heule (1964, nicht aufgeführt), Regie: Frank Vogel; Karla (1965, Arbeitsfassung), Buch: Ulrich Plenzdorf, Regie: Hermann Zschoche; Fräulein Schmetterling (1965, Arbeitsfassung), Buch: Christa Wolf, Regie: Kurt Barthel; Hände hoch (1965, Arbeitsfassung), Regie: Hans-Joachim Kasprzik; Jahrgang 45 (1966, Arbeitsfassung), Regie: Jürgen Böttcher, Wenn du groß bist, lieber Adam (1965, Fragment), Regie: Egon Günther, Die Schönste (1957, Fragment), Regie: Ernesto Romani, Das Kleid (1961), Regie: Konrad Petzold (Fragment), Sommerwege (1959/60, Fragment), Regie: Hans Lucke.
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