: Zuwendung auch für West-Berliner
■ Friedensforscher fordert Politiker zu sozial- psychologischem Einfühlungsvermögen auf
Interview mit Professor Uli Albrecht, Friedensforscher an der Freien Universität.
taz: Die Euphorie nach dem 9. November ist unumstritten vorbei. Folgt jetzt der große Kater?
Uli Albrecht: Nach dem Rausch - und das war ja ein kräftiger Rausch, in den man sich in West-Berlin gestürzt hat - kommt das Kotzen. Also ein Rückschlag, der weitgehend auch als Streß empfunden wird.
Wie äußert sich das nach Ihrer Beobachtung?
Das ist weniger Sozialneid, obwohl es da schon entsprechende Reaktionen gibt in Bezug auf das Begrüßungsgeld oder Hilfen bei der Jobsuche für Übersiedler. Das sind Hilfen, die hier auch mancher braucht. Der Eindruck ist eher, daß, nachdem die Mauer gefallen ist, eine Negativfixierung plötzlich fehlt.
Bei den West-Berlinern entsteht also plötzlich ein Vakuum...
Die „Mauer-Meise“ gibt es ja auf beiden Seiten. Wir machen schon seit längerem die Beobachtung, daß Probleme wie Umweltbelastung oder Angst vor Aufrüstung sich als so eine Art von Gruppenstreß äußert, so daß der berühmte Berliner Humor, den es früher einmal gegeben hat, einer weitgehenden Gereiztheit gewichen ist. Und die konkretisiert sich dann in so einschneidenden Situationen wie bei der jetzigen Öffnung.
Gab es denn schon vergleichbare Situationen, in denen ein solcher Stimmungsumschwung erfolgt ist?
Die Jugendszene hat verschiedentlich zumindest unter den Jüngeren breite Gefühle der Solidarität geschaffen - zum Beispiel die Hausbesetzerszene. Genau damals konnte man aber auch feststellen, daß Ältere oder sogenannte Normalberliner übermäßig gereizt reagiert haben.
Wie müßte man denn auf diese Stimmung reagieren?
Oft ist vielen schon dadurch geholfen, daß jemand, zum Beispiel Herr Momper, das, was sie wahrnehmen, auf den Punkt bringt. Und ihnen sagt, daß sie sich nicht individuell darüber ärgern, sondern daß das Ursachen hat. Noch glaubhafter wäre, wenn dem auch sichtbare Maßnahmen folgen würden. Etwa beim Wohnungsbau oder bei der Arbeitsplatzbeschaffung oder auch bei der konkreten Hilfe für die DDR.
Aber wie kann man die zunehmende Frustration in einer Stadt, in der es verdammt eng werden wird, kanalisieren?
Das Ganze ist ja auch ein Medien- und Wahrnehmungsvorgang. Es ist soviel DDR-Spektakel in den Medien, daß diejenigen, die auch Wünsche, Hoffnungen und Sorgen haben, völlig unbeachtet bleiben. Denen muß man sich auch wieder zuwenden.
Trauen Sie den Politikern so viel sozialpsychologisches Einfühlungsvermögen zu?
Die müssen ja nicht geschult sein. Aber die verstehen ihr Fach ja selbst als etwas, das von Intuition und dem Aufspüren von Grundstimmungen geprägt ist. Da sehe ich große Sendepause im Moment. Sich mitzufreuen und sich an die Spitze von Jubelzügen zu stellen, ist kein Kunststück. Aber die Ernüchterung hinterher aufzufangen und zu interpretieren, dazu gehört schon ein größeres Kaliber.
Wie stellen Sie sich die Stadt angesichts zunehmender Enge in einem Jahr vor?
Es kann natürlich weiter gewurschtelt werden. Was eigentlich nötig ist, ist eine politische Perspektive. Dann wüßten zum Beispiel auch die Investoren besser, ob sie das Winken des Berliner Senats, sich jetzt zu engagieren, ernst nehmen sollen oder nicht. Welche Stellung die Stadt West -Berlin nun zwischen Ost und West hat, das müßte man jetzt sagen und nicht erst in zwei Jahren. Aber zu so großen Sprüngen ist zur zeit offenbar keiner bereit.
Interview: Andrea Böhm
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