: Leipzig im Herbst
■ Auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival werden die ersten Filme über die friedliche Oktoberrevolution gezeigt / Wie Bilder aus längst vergangener Zeit / Heute wieder Demonstration
Leipzig (taz) - Kurz vor Festivalbeginn war der alte Juryvorsitzende zurückgetreten und ein neuer erstmals nicht bestimmt, sondern gewählt worden. Auch das Festivalkomit!ee wird nach der diesjährigen Dokumentarfilmwoche geschlossen zurücktreten. Immerhin hat dieses Komitee es geschehen lassen, daß im vergangenen Jahr fünf sowjetische Filme nicht in Leipzig gezeigt und daß kein einziges Mal öffentlich diskutiert werden durfte. Jetzt versuchen sie wiedergutzumachen. Roland Steiner, der Regisseur des Skinhead-Films Unsere Kinder (dazu in der taz von morgen ein Interview) zählt auf: Alleine fünf Filme über die aktuellen Ereignisse in der DDR sind in letzter Minute nach Leipzig geholt worden.
Zur Eröffnung also gibt Festivalchef Roland Trisch - einer von den alten - mit verkniffenem Gesicht die Programmänderung bekannt. Eröffnungsfilm ist Leipzig im Herbst. Das erst einen Tag zuvor fertiggestellte „Material“ (so der Untertitel) stammt von Andreas Voigt, Gerd Kroske und Sebastian Richter, eines von mehreren Filmteams, die im Oktober ganz offiziell in Leipzig, Dresden und Berlin drehen durften.
Die Bilder sind erst vier Wochen alt, und doch stammen sie aus längst vergangener Zeit. Montagsdemo vom 16.10.: Die Leute fordern Reisefreiheit. Lachen im Saal. Noch mehr Gelächter erntet Herr Henze von der SED-Bezirksleitung im gleichzeitig von Studenten gedrehten Leipzig-Film „Es lebe die R...“: „Keiner tritt zurück“, sagt er mit Nachdruck. Die Bezirksleitung ist längst zurückgetreten - Filmszenen als Beweisstücke für die rasende Geschwindigkeit, mit der die DDR sich ändert. Die meisten der Befragten, vom Müllmann bis zum Superintendenten, brauchen ein, zwei Sätze lang, bis sie vom offiziellen DDR-Jargon zu eigenen Worten gefunden haben.
Am 9.Oktober, dem Montag, an dem der Volksaufstand beinahe gewaltsam niedergeschlagen worden wäre, waren die Filmemacher nicht in Leipzig. Aber sie haben recherchiert. Mit jungen Vopos geredet und mit den Einsatzleitern. Die 18 bis 19jährigen Polizisten erzählten zögernd. Das mit dem Tränengas habe er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren können, sagt einer. Der Einsatzleiter erzählt vom Befehl zur Sonderausrüstung. Und vom Widerruf in letzter Minute. Nein, von Waffen wisse er nichts. Er wackelt dabei mit den Schultern, ist nervös. Man sieht, er lügt. Die Filmemacher haben auch die Viehställe ausfindig gemacht, in der die Polizei 23 Stunden lang Leute festhielt: „16 Boxen zu zehn Männern, zwei Boxen zu zehn Frauen“.
Die Szene mit dem Presseoffizier, der noch versuchte, die Gespräche mit den jungen Vopos und den Einsatzleitern zu verhindern, haben sie nicht gedreht. Bei der Diskussion beschweren sich viele, man müsse gerade so etwas zeigen. In „Es lebe die R...“ fällt den Filmstudenten auf, daß das DDR -TV-Nachrichtenteam in der Nicolai-Kirche dieselben Kamerastandpunkte einnahm wie sie selber wenige Tage vorher. „Wir merken, wir waren im Begriff, denen die Arbeit abzunehmen.“ Wenn die DDR-Medien nun tatsächlich beginnen, ihre Funktion zu erfüllen, dann müssen die Dokumentaristen wieder gründlicher werden und präziser.
Aber vielleicht gibt es im Moment ja wichtigere Fragen als die nach den angemessenen filmischen Mitteln. Heute abend wird wieder demonstriert: Ins Kino geht da keiner.
Christiane Peitz
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