: Die Rückkehr
150 meist tschechische EmigrantInnen reisen von Österreich nach Bratislava / Dort sagt ein Hunderttausendmund: „Willkommen zuhause!“ ■ Von Pavel Kohout
Wien (taz) - Die Kundgebung hat es bewirkt. Während des Generalstreiks wollten die Hochschülerschaften und politische Gruppierungen Österreichs vor der tschechoslowakischen Botschaft in Wien ihre Unterstützung demonstrieren.
Nach zahlreichen Zusagen fanden sich in Wien etwa 150 Menschen zusammen, die meisten davon Emigranten. Ein Kleinbus aus der Wirtschaftsuniversität konkurrierte mit einem Großbus voller Polizisten, die Gitterzäune aufstellten. Nicaragua scheint näher als die CSSR zu liegen. Eine unerträgliche Leichtigkeit der Solidarität.
Zum Glück waren im Nachbarland Millionen auf der Straße, und die Betriebe standen ganze zwei Stunden still, obwohl der Ministerpräsident von Havels und Dubceks Gnaden gebeten hatte, nur eine Minute zu streiken. Das Volk, auch die Arbeiter, zückten ihre stärkste Waffe.
Österreich entsandte wenigstens Freda Meissner-Blau (Grüne), Peter Jankowitsch (SPÖ) und Othmar Karas (ÖVP) in das friedliche Gefecht. Ihnen gelang, was ich in der Früh im Telefongespräch mit dem Botschafter noch nicht erreicht hatte: Er öffnete die Tür und nahm die Petition entgegen für Prag. Und versprach, sich einzusetzen, daß einige Verfemte sie direkt nach Bratislava überbringen durften.
Eine Handvoll Tschechen wollte ihre Heimat bewußt in der Slowakei wiederbetreten.
Warten an der Grenze
Wir fuhren gleich los. Am Grenzübergang Berg befehligte wieder jener junge Schönling, der uns im Januar als eine gewisse Kategorie von Österreichern bezeichnet hatte, für die es hier keinen Durchgang gibt. Wir mußten warten. Die Zeit der großen Demonstration lief langsam ab. Ich ließ den Mann erneut rufen. Auch sein Ministerium, so sagte ich, habe eine Chance, etwas wiedergutzumachen. Ansonsten werde ich bald erfahren, wie denn der Verbieter von heute hieß.
In fünfzehn Minuten durften wir weiter. Das Betreten des Heimatbodens kostete uns 630 Schillinge pro Kopf.
Zwei Minuten
Das erste Mal nach 21 Jahren in Bratislava irrten wir durch eine Geisterstadt. Um Viertel nach fünf waren die Straßen leergefegt und Fenster dunkel, hie und da ein TV-Flattern. Dann, bereits in der Stadtmitte, kam uns das Geräusch der Brandung entgegen. Es führte uns zu dem Ort, wo alle waren.
Schier unmöglich, zu der Tribüne durchzukommen, doch es genügte ein Wort der Erklärung, und der Ruf „Korridor!“ ebnete uns den Weg. Eine bereits erprobte Schneise führte uns zum Podium in der Mitte. Ich stellte mich dem moderierenden Schauspieler vor und wurde gemahnt, nicht länger als zwei Minuten zu reden. Eigentlich zu lang. Was kann man nach 21 Jahren sagen?
Ich sagte, daß ich seit zehn Tagen keine Zeile meines Romanes schrieb, da ich sprachlos im TV zuschaute, wie sie Geschichte schreiben. Ich bat sie, ihre junge Unbeflecktheit wach zu halten, wenn bald Zyniker versuchen, sie wieder einmal andres zu manipulieren. Dann rief die Menge und ich verstand kein Wort, bis sich die Sprechchöre einigten und ein Hunderttausendmund sagte deutlich: „Vitaj domov!“ Willkommen zu Hause.
Ich weinte nicht. Ich hatte nicht geweint, als wir verleumdet, verhaftet, geschlagen, ausgebürgert wurden. Ich lernte es, Katastrophen als auch Siege mit klarem Kopf zu erleben. Ich weine erst beim Schreiben.
Wir wanderten durch die heruntergewirtschaftete Stadt, die trotzdem in Karnevalsstimmung schwelgte. Wir saßen in den Theatern, wo Künstler, die vor elf Jahren die Anti-Charta signierten, den Sieg der Charta 77 feierten. C'est la vie, es geht nicht anders. Unerkannt strahlten im Publikum zwei der Handvoll slowakischer Bürgerrechtler, die 21 Jahre in der Wahrheit lebten und dafür teuer zahlten, bis andere begriffen.
Auch dieser Sieg hat bereits unzählige Väter und Mütter, anders kann es nicht sein. die echten müssen dann über die höchste Latte springen: die der Vergebung.
Euphorie in Energie
Während die Stadt jubelte, saßen sie mit uns beim Hauswein und waren schon wieder besorgt: Wie man diese Euphorie in Energie verwandelt, die nach den Herzen auch die Tagespolitik und Wirtschaft bewegt. Wie man dieses tolle Land wieder voll verwertet.
Die erste Idee lag auf der Hand: bei den momentanen Schwierigkeiten Ungarns auch die CSSR einzubinden, die Weltausstellung also im Dreieck Wien-Budapest-Bratislava!
Um vier Uhr früh kehrten wir nach Wien zurück, um als brave Österreicher ab acht zu arbeiten. Ein mieses Regime hat uns die Heimat gestohlen, jetzt haben wir zwei. Man hat uns in die Welt vertrieben, also sind wir hier und wollen sie jetzt mit dem Vaterland wieder koppeln.
Wir sind in einer Nacht gleich in zwei Richtungen zurückgekehrt
Wien, 28.11.89
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