: Rasende Eile bei Reformen in Prag
■ Rekord am runden Tisch: Nach zwei Stunden waren neue Regierung und Verfassungsreform beschlossene Sache
Prag/Berlin (afp/dpa/taz) - Geschichte geschieht immer geschwinder. Nach nur zwei Stunden Gespräch zwischen dem tschechoslowakischen Bürgerforum und der Prager Regierung war die Revolution beschlossene Sache: Beide Seiten einigten sich, die Führungsrolle der Kommunistischen Partei ersatzlos aus der Verfassung zu streichen. Regierungschef Ladislav Adamec wird bis zum 3. Dezember Staatspräsident Husak eine neue Regierung vorschlagen, der auch nicht-kommunistische Minister und Mitglieder des Bürgerforums angehören sollen.
Als „konstruktiven Dialog“ bezeichnete Minister Marian Calfa das Gespräch, das gestern mittag im Konferenzsaal des Regierungspalais in einer „sehr lebhaften“ Atmosphäre begonnen hatte. Die von Vaclav Havel angeführte Delegation des Volkes (von „Opposition“ kann angesichts der realen Mehrheitsverhältnisse im Lande längst nicht mehr gesprochen werden) hat sich in entscheidenden Punkten durchgesetzt. Adamec wird dem Parlament umfangreiche Verfassungsänderungen vorschlagen. So soll die Rolle der Nationalen Front, in der die vier zugelassenen Parteien sowie die Massenorganisationen zusammengefaßt sind, beendet und neuen Parteien die Möglichkeit zur Zulassung gegeben werden. Ebenso soll die Freiheit des Unterrichtswesens in der neuen Verfassung festgeschrieben werden. Erziehung werde, so Adamecs Sprecher Calfa, in der CSSR künftig nicht mehr auf den Marxismus-Leninismus, sondern auf die Freiheit der Wissenschaft und der Humanität aufgebaut sein. Dem Bürgerforum wurde zugesagt, die technischen Voraussetzungen für die Arbeit der Organisation zu schaffen - ein Versprechen, das von den Tschechoslowaken faktisch längst realisiert wurde.
Die Protestbewegung hatte für den gestrigen Verhandlungstag alle Kundgebungen und Umzüge ausgesetzt. Um so turbulenter ging es in den Konferenzsälen der KP zu. Exparteichef Jakes trat auch als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats zurück; Parlamentspräsident Alois Indra, einer der stählernsten unter den Stalinisten nach 1968, reichte seinen Rücktritt ein.
Bei einer Sondersitzung der slowakischen KP in Bratislava wurden fünf Präsidiumsmitglieder „auf eigenen Wunsch“ durch unbekannte (und unbelastete) Parteimitglieder ersetzt. Das ZK der slowakischen KP berief für den 20.Januar einen Sonderparteitag, die KP der gesamten Tschechoslowakei wird am 26.Januar tagen. Das Kulturministerium beschloß unterdessen, ein seit 1969 geltendes Verbot von bestimmter Literatur und Filmen aufzuheben.
Heute wird das tschechoslowakische Parlament zusammentreten, um eine Untersuchungskommission über die Prügeleien der Polizei vom 17.November einzusetzen. Ebenfalls sollen Gesetzte eingebracht werden, die die staatliche Kontrolle der Kirchen abschaffen.
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