Der schuldet mir noch 20 Dollar

■ Ein Gespräch mit Jim Jarmusch

Gunter Göckenjan

Gunter Göckenjan: Landschaft oder Stadtlandschaft sind in deinen Filmen immer ein wichtiger Hauptdarsteller.

Jim Jarmusch: Landschaft ist mit der Atmosphäre einer Geschichte verbunden, sie ist so etwas wie ein Charakter. Ich habe keine Lust, die Teile einer Stadt zu zeigen, die die Touristenbüros empfehlen. Ich vermeide die Wahrzeichen, die jeder kennt, und die Stadtzentren zugunsten des Herzens einer Stadt. Das sind die Seitenstraßen und die Stadtteile, in denen die Menschen wirklich wohnen.

Womit fängst du an, wenn du einen Film vorbereitest?

Die Figuren und Charaktere kommen immer zuerst. Sie sind für mich sogar wichtiger als die Geschichte. Ich beginne eigentlich sogar mit den Schauspielern, für die ich dann Charaktere entwickele.

Es geht bei deiner Arbeit immer um die kleinen Dinge, die zwischen den Leuten passieren...

...und nicht um die großen Dramen. Meine Filme sind aus den Szenen gemacht, die andere Leute wegwerfen würden. Ich nehme heraus, was bei denen im Mittelpunkt stehen würde.

Sammelst du oder erfindest du diese Kleinigkeiten?

Ich sammle das Material aus Erlebnissen und Berichten von Leuten, die ich kenne. Ab und zu verarbeite ich auch Segmente aus Büchern und Bildern. Vor allem beobachte ich aber die Leute, wo immer ich bin.

Improvisierst du bei den Dreharbeiten?

Nein, ich improvisiere bei den Proben. Zuerst proben wir Szenen, die überhaupt nicht im Drehbuch stehen, Backgroundszenen, in denen wir die Lebensgeschichte der Charaktere erfinden. Dann improvisieren wir um die Szene im Buch. Häufig kommen die Schauspieler dabei auf Ideen, die besser sind als meine niedergeschriebenen. Die endgültige Form proben wir nochmal und drehen sie dann in dieser letzten Form. Während der Dreharbeiten improvisiere ich fast überhaupt nicht, weil mir dazu das Geld und die Zeit fehlen.

Bedauerst du es nicht oft, die erarbeiteten Ergebnisse wegwerfen zu müssen?

Oh ja, es ist traurig, aber andererseits liebe ich diese Proben, sie machen mir Spaß. Es ist wie auf einem Kinderspielplatz. Die letzten Proben einer Szene halte ich aber auf Video fest.

Wirst du die veröffentlichen?

Nein, sie sind nur Werkzeug. Werkzeug sollte Werkzeug bleiben. Es ist wie mit den neuen Technologien: oft sind die Leute so aufgeregt über die Effekte, daß sie vergessen, daß das ganze nur Mittel sein sollte, eine Geschichte zu erzählen.

In Mystery Train gibt es auch einen Special Effect.

Ja, meinen ersten, den Geist. Ich habe in der Regel keine Verwendung für sowas. Es gibt noch eine Szene, in der wir diese ganzen komplizierten Sachen machen, mit den Blutbeuteln usw., in dem Getränkeladen, wenn sie den Typ erschießen. Diesen Effekt mit dem Blut, zum Beispiel, einzurichten, ist eine Riesenarbeit, und deshalb machen die Filmemacher viele Großaufnahmen davon. Sie denken, daß sich der Zeitaufwand auch auf der Leinwand auszahlen muß. Das mache ich nicht. Ich lasse die Kamera in einer Stellung, fast wie eine Überwachungskamera.

Du magst scheinbar überhaupt keine Close-ups.

Ich mag sie nicht in meinen Filmen, weil sie Bedeutung und Gewicht verleihen. Ich möchte keine Objekte hervorheben, weil mich die Personen interessieren. Ich möchte auch die Personen nicht in Nahaufnahmen filmen, weil ich den Zuschauern die Wahl lassen will, welche Einzelheiten sie wichtig finden. Ich benutze auch die Kamerabewegung nur, damit sie einer Person folgt. Ich würde nie auf eine sitzende Person zufahren und die Musik anschwellen lassen... Ich habe das schon in wunderbaren Filmen gesehen, bei Scorsese oder Fassbinder, aber es ist das genaue Gegenteil von meinem Stil. Ich möchte nicht, daß die Kamera eine Hauptrolle spielt oder Meinung formiert. Sie soll nur beobachten.

Schon mit dem ersten Film, Permanent Vacation, gab es so etwas wie den Jarmusch-Stil. Wie ist er entstanden?

Aus der Not. Ich hatte für Permanent Vacation nur zehn Drehtage, also habe ich eine Menge langer Einstellungen genommen, um es überhaupt in dieser Zeit zu schaffen. Es gibt da eine Szene, in der der Junge die Straße langgeht und die Kamera im Auto neben ihm herfährt. Ich wollte keine Handkamera und konnte mir keine andere Art, die Kamera zu bewegen, leisten, also nahm ich das Auto. In diese Einstellung habe ich mich richtig verliebt und benutze sie seitdem in jedem Film. Es ist ein wichtiges Element meiner Filme geworden. Dieser Minimalstil ist zwar aus der Not heraus entstanden, aber ich glaube an die Stärke durch Begrenzung und Selbstbeschränkung. Ozu gab ein Beispiel dafür, er benutzte nur ein einziges Objektiv und zwei Kamerapositionen; er hatte die Mittel, alles zu machen, was er wollte. Bresson ist ein weiteres Beispiel für die stilistische Stärke, die durch Selbstbegrenzung entsteht.

Welche Beschränkungen erlegst du dir noch auf?

Für jeden Film mache ich eine Liste, die ich mit dem Kameramann abspreche. Es gibt keine Kamerabewegungen, wenn sich die Personen nicht bewegen, ich mache keine Einstellungen über die Schulter einer Person.

In Mystery Train gibt es Szenen, in denen die Personen den Rahmen verlassen und von der gleichen Seite wieder hineingehen. Man lernt in der Filmschule, so etwas nie zu tun, es ist streng verboten. Aber man kann Regeln brechen, wenn man einen Grund dafür hat: Es zeigt, daß die Leute umherschweifen und nicht wissen, wo sie sind. Ich mache noch etwas, was man nie tun darf: Achsensprünge. Bei den Dreharbeiten zu Mystery Train habe ich es das erste Mal erlebt, daß ein Mitglied der Crew vor Beendigung der Dreharbeiten weggegangen ist. Der Grund war diese Regelverletzung. Mein Scriptsupervisor meinte, du darfst das nicht machen, es ist gegen die Regeln. Robbie Müller (Kamera) und ich haben gemeinsam versucht, es ihr zu erklären, aber sie bestand darauf, daß man es nicht tun könne. Interessanterweise hat die vorher nur bei kommerziellen Produktionen gearbeitet. Ich hätte sie gerne gezwungen 25 Godard-Filme zu sehen: Siehst du, das war eine Regel! Er hat sie gebrochen!

Was außer Regeln hast du noch an der Filmschule gelernt?

Eine Menge Technisches: Schnitt, Ton, Kameraposition und Laborablauf. Ästhetisch lernt man dort nichts, aber du solltest von einer Filmschule auch nicht erwarten, daß sie deine Entwicklung als Künstler fördert. Sie versuchen dort, den Studenten ein bestimmtes ästhetisches Verständnis, einen Stil aufzuzwingen. Alles über Schauspielkunst mußte ich erst wieder verlernen, bevor ich anfangen konnte, selbst Filme zu machen. Man bekommt dort erzählt, daß es nur eine Methode gibt, mit Schauspielern umzugehen. Totaler Quatsch! Es gibt eine richtige Art der Zusammenarbeit zwischen einem bestimmten Regisseur und einem bestimmten Schauspieler. Ich muß mit jedem Schauspieler einen eigenen Weg finden.

Das zweite Problem ist, daß die Schauspiellehrer die Verletzlichkeit der Schüler offenlegen wollen. Nach dem Prinzip: wenn ich dich vor allen Leuten zum Weinen bringe, haben wir einen Fortschritt gemacht und eine Grenze niedergerissen. Alles Mist! Man muß nichts durchbrechen, sondern lernen, daß Schauspielen eine Kunstform ist: Schauspieler müssen etwas glaubhaft darstellen, sie müssen es aber nicht leben. Ich habe von Nicholas Ray gelernt, diesen ganzen Methodenmist wieder zu verlernen. Er sagte: Es gibt keine Methode, sondern nur Kommunikation zwischen dir und dem Schauspieler.

Und die Kommunikation entwickelt sich bei den Proben?

Ja. Außerdem arbeite ich auch oft mit Leuten, die ich schon kenne. Es ist dann weniger förmlich. Manche Leute ziehen aus diesen Dingen ihre Stärke, ich folge dem Vorbild Nicholas Rays, der James Dean dazu gebracht hat, mit ihm im Auto von LA nach New York zu fahren und nicht über den Film zu reden, den sie zusammen planten, sondern um miteinander rumzuhängen und sich kennenzulernen.

Ich habe mal mit John Lurie gesprochen, und der meinte, du würdest überhaupt nicht Regie führen.

Er möchte, daß man glaubt, daß alles, was er auf der Leinwand macht, alleine von ihm ist. Er hat ein Ego-Problem. Nachdem wir Stranger than Paradise gemacht haben, lief John herum und gab Interviews, noch bevor ich überhaupt daran denken konnte. Jedem erzählte er, daß ich bei den Filmarbeiten fast gar nicht dabei war. Er erzählte, er habe den Film geschrieben und natürlich auch Regie geführt. Ich bin stolz darauf sagen zu können, daß wir zusammengearbeitet haben. Es war eine gute Kooperation.

Wie kamst du auf die Idee, ein japanisches Paar für „Mystery Train“ zu nehmen?

Ich sah Youki Kudoh in Crazy Family und konnte sie nicht mehr vergessen. Ich habe die erste Episode des Films für sie geschrieben.

Du arbeitest gerne mit Nicht-Amerikanern?

Amerika ist ein Land, das aus allen möglichen Kulturen zusammengesetzt ist. Mir gefällt das Aufeinandertreffen verschiedener Wahrnehmungen, dadurch entstehen neue Perspektiven. Nebenbei ist es für mich als Drehbuchautor auch noch ein guter Ausgangspunkt für Komödien. Dann reise ich selbst gerne und genieße es, mich an Orten aufzuhalten, an denen ich die Sprache nicht verstehe und auch nicht die Nuancen der Kultur. Dadurch öffnet sich das Vorstellungsvermögen. Du beobachtest fremde Verhaltensweisen, du fragst dich nach den Gründen und fängst an, zu kombinieren. Vielleicht stimmt das Ergebnis nicht, aber es macht Spaß. Der eigentliche Grund, warum immer Ausländer in meinen Filmen spielen, ist der, daß ich die alle irgendwo kennengelernt habe und mit ihnen arbeiten wollte. Auch meine Crew ist international: Irland, Holland, Deutschland, Frankreich, Israel oder Japan - das gibt ein lustiges Gemisch aus verschiedenen Akzenten.

Du hast in Paris und Berlin gelebt. Wie hat dich das beeinflußt?

Wenn ich nicht in Frankreich gelebt hätte, wäre ich heute wie ein 20jähriger. Auch Filme würde ich nicht machen. Ich wollte Schriftsteller werden und habe Literatur studiert. Nach Paris bin ich gegangen, weil es ein literarisches Zentrum ist. Erst dort entstand meine Obsession fürs Kino, ich verbrachte den größten Teil dieser Zeit in der Kinemathek. Dort habe ich erst verstanden, daß Film so vielfältig sein kann wie Literatur. In Amerika kommt man nicht so leicht zu dieser Erkenntnis, weil dort alle Filme einem Stil folgen. In Berlin habe ich mich meist in kleinen dunklen Bars herumgetrieben. Eine Menge Details für Mystery Train habe ich dort gesammelt.

Warum versuchst du nicht, mit Hollywood-Geld Filme zu machen?

Weil mich Geschäftsleute, die mir erzählen wollen, wie ich einen Film machen soll, nicht interessieren. Ich rede ihnen ja schließlich auch nicht ins Geschäft. Ich mache Filme nicht, um Geld zu verdienen. Natürlich muß ich Geschäfte machen, um Filme herstellen zu können. In Hollywood machen sie Filme, um Geschäfte zu machen.

Elvis spielt eine wichtige Rolle in deinem Film. Verbindet dich etwas mit seiner Musik?

Eigentlich nicht. Ich finde es eher witzig, daß er so etwas wie eine Ikone ist, fast schon ein Heiliger in Amerika. Ein typischer Fall dafür, wie man in Amerika Menschen zu Objekten und Produkten macht. Das heißt dann Starverehrung, Hollywood ist so ein Apparat zur Verdinglichung von Menschen. In seinen Anfangszeiten war Elvis ein guter Performer, aber, das sagte John Lennon einmal, er starb an dem Tag, an dem er zur Armee gegangen ist. Er hatte eine gute Stimme, sah gut aus, aber ich ziehe Eddie Cochran oder Gene Vincent vor.

Wie entsteht der Humor in deinen Filmen?

Ich kann mich nicht hinsetzen und Witze schreiben. Mich interessiert auch nicht die große Slapstick-Komödie, die dem Publikum „Achtung, Humor!“ telegraphiert. Bei mir ist das ein Ergebnis von Beobachtungen und Erfahrungen. Es müssen Dinge sein, die ich mir zumindest als möglich vorstellen kann.

Für viele Kinogänger bis du so eine Art Kultstar. Wie siehst du dich selbst?

Ich betrachte mich eher als Handwerker, wie jemand der Zigarren macht. Und das ist eine Kunst! Man kann eine wunderbare Zigarre machen und sie einem anderen Fachmann zeigen, der schaut sie sich an und sagt: Toll. Aber sie ist trotzdem für den, der sie raucht. Ich möchte, daß das Publikum meine Filme mag. Deshalb bedeuten mir Ereignisse wie Cannes nichts. Es hilft, den Film zu verkaufen. Das wir schließlich alles nur veranstaltet wegen der Publicity, aber es ist so weit weg von der wirklichen Welt.

Schaust du dir Vorführungen deiner Filme an, außerhalb des Premierentrubels?

Wenn ich in einer Stadt bin, in der einer meiner Filme läuft, gucke ich immer mal ein paar Minuten hinein. Ich sitze oder stehe hinten und freue mich, wenn die Leute reagieren. Ich hoffe immer, daß ich stehen muß, weil keine Plätze mehr frei sind.

Hast du schon mal was Witziges dabei erlebt?

Rockets Redglare ist berüchtigt dafür, daß er sich von allen Leuten, die er trifft, Geld borgt. Er spielt in Stranger than Paradise, in Down by Law und auch in Mystery Train. Als Down by Law in New York spielte, habe ich mir ein Stück davon angesehen. Als Rockets auf der Leinwand erschien, sagte der Typ vor mir ganz laut: Moment mal, ich kenne diesen Typen, der schuldet mir noch 20 Dollar! Jeder, den er in New York kennt, hat ihm schon einmal 20 Dollar geliehen, und sie nie zurückbekommen. Für mich ist es ein Merkmal für einen großen Schauspieler, wenn er die Leute davon überzeugen kann, daß sie ihm Geld leihen müssen. Die Leute, die dich auf der Straße wegen Geld anmachen, erzählen manchmal so gute Geschichten, so überzeugend, daß ich ihnen Geld gebe, weil sie für ihren Lebensunterhalt schauspielern. Ich habe mal einen getroffen, der mir eine 40minütige Geschichte erzählt hat. Das war so unglaublich gut, daß ich ihm sieben Dollar gegeben habe, ungefähr den Eintrittspreis fürs Kino. Wenn die Show nicht gut ist, müssen sie verhungern. Ich wünschte, Hollywood -Schauspieler hätten genauso zwingende Gründe, überzeugend zu sein.